Dienstag, 3. Dezember 2013

Lenin, der libertäre Demokrat

Häufig wird Lenin als fieser Diktator präsentiert. Sein kurzes Büchlein Staat und Revolution zeigt den russischen Sozialisten hingegen ganz anders: als einen Theoretiker der Demokratie, der erstaunlich
aktuell ist.


Unterdrückung von Demokratie im englischen Königreich



Großbritannien, Anfang August: In verschiedenen Städten kommt es zu Aufständen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Über tausend Menschen werden verhaftet, einige sterben sogar. Auslöser der Proteste war die Tötung eines Mannes durch die Polizei. Die sozialen Hintergründe sind Frust und Perspektivlosigkeit einer Bevölkerung, deren Freiheit und Entwicklung gehemmt wird. Der britische Staat unterdrückt den Protest seiner unzufriedenen Bevölkerung.

Unterdrückung von Demokratie im russischen Zarenreich


Genau darum geht es auch in Lenins kurzer Broschüre Staat und Revolution. Der russische Sozialist verfasste den Text im August und September 1917 in einer Laubhütte im finnischen Exil. Wenige Monate zuvor war die Revolution in Russland ausgebrochen. Die alte Ordnung schlug zurück, ließ Sozialisten von Polizei und Armee verfolgen. Verkleidet und ohne den charakteristischen Bart floh Lenin über die Grenze. Fertig wurde er mit seinem Buch nicht - im Herbst setzte sich die Revolution fort, Lenin reiste zurück nach Petrograd und schrieb fast entschuldigend: 
"Allerdings wird der zweite Teil dieser Schrift wohl auf lange Zeit zurückgestellt werden müssen; es ist angenehmer und nützlicher, die 'Erfahrung der Revolution' durchzumachen, als über sie zu schreiben."

Kann der Staat neutral sein? 


Besonders originell ist das Buch nicht - Lenin trägt einfach zusammen, was bereits andere, im Wesentlichen Karl Marx und Friedrich Engels, über die Natur des Staates gesagt haben. Auch der knochentrockene Stil ist gewöhnungsbedürftig - ehrliches Handwerk statt großer Literatur. Die Stärken von Staat und Revolution liegen im Inhalt und der klaren Argumentation. 

Lenin setzt sich hauptsächlich mit einer weit verbreiteten Position auseinander: Der Staat sei neutral, ein bisschen wie ein Fahrrad - je nachdem, wer darauf sitzt, kann es nach rechts oder links fahren. Das ist bis heute das Staatsverständnis der Sozialdemokratie, die daher auch so oft versagt, wenn es um gute Politik geht.

Der Staat als Organ der Klassenherrschaft


Lenin ist anderer Meinung: Die Gesellschaft sei in Klassen gespalten, deren Interessen nicht miteinander vereinbar sind. Der Staat einer solchen Gesellschaft habe im Wesentlichen zwei grundlegende Aufgaben: Zum einen leite er den Klassenkonflikt in formale Bahnen, das heißt Konflikte werden meist nach gesetzlich fixierten Regeln ausgetregen. Zum anderen sichere er die bestehende gesellschaftliche Ordnung und damit die Position der momentan Herrschenden. Somit sei der Staat das "Organ der Herrschaft einer bestimmten Klasse".

Lenin zählt dazu Polizei und stehendes Heer, auch allgemein Beamte, Richter, Gefängnisse und "Zwangsanstalten aller Art", die gemeinsam die "öffentliche Gewalt" des Staates bilden und sich der Kontrolle durch die Masse der Bevölkerung entziehen. In der Klassengesellschaft braucht die ausbeutende Minderheit solche Unterdrückungsmechanismen, sprich einen Staatsapparat, um ihre gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten.

Die demokratische Diktatur im Kapitalismus


Das gelte auch für die parlamentarische Demokratie. Letztere ist als Staatsform durchaus ein immenser Fortschritt in der Geschichte und daher verteidigenswert. Doch Lenin verweist auf die Begrenztheit der Demokratie im Kapitalismus. 
"Die modernen Lohnsklaven bleiben infolge der Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung so von Not und Elend bedrückt, dass ihnen 'nicht nach Demokratie', 'nicht nach Politik' der Sinn steht, sodass bei dem gewöhnlichen, friedlichen Gang der Ereignisse die Mehrheit der Bevölkerung von der Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben ausgeschlossen ist."
Dass diese Feststellung noch immer aktuell ist, auch in Ländern wie England oder Deutschland, die ein Sozialstaatssystem besitzen und Teilhabe an politischen Prozessen ermöglichen, haben mehrere Umfragen gezeigt. Ein Beispiel: In einer Studie des Münchner Meinungsforschungsinstituts "polis + sinus" für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2008, sagten vier von zehn Befragten, dass die Demokratie nicht funktioniere. Rund 30 Prozent gaben an, die Demokratie funktioniere "weniger gut". Sechs Prozent meinten, sie wäre "schlecht". 22 Prozent sagten, die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik sei nicht verteidigenswert.

Lenins Vorstellung von sozialistischer Demokratie 


Lenin schwebte eine wesentlich radikalere Demokratievariante vor als die parlamentarische. Als Vorbild diente ihm wie auch schon Marx vor ihm die Pariser Kommune von 1871. Damals übernahm die Bevölkerung der französischen Hauptstadt für einige Monate die Verwaltung eines komplexen Gemeinwesens. Lenin zitiert wesentliche Schlossfolgerungen aus der Kommune, die Marx gezogen hatte: 
"Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen."
Sie müsse vielmehr im Rahmen ihrer Selbstermächtigung die alten Unterdrückungsorgane durch eigene Organe ersetzen und einen eigenen, aber demokratischeren Staat aufbauen, wie es in der Pariser Kommune durch diverse Maßnahmen ansatzweise geschehen war:

  • Abschaffung des stehenden Heeres und Bewaffnung des Volkes
  • Schaffung eines Rätesystems, in dem gesetzgebende und ausführende Gewalt vereint waren und in dem Delegierte aus der Arbeiterklasse überwogen
  • das Prinzip der Verantwortlichkeit der Rätedelegierten gegenüber den Wählern
  • das Prinzip der jederzeitigen Abwählbarkeit der Rätedelegierten durch ihre Wähler
  • die Begrenzung aller Beamtengehälter auf den durchschnittlichen Arbeiterlohn
  • die Kontrolle der Beamten durch die Räte
  • und weitere revolutionäre Reformen.
Die Kommune wurde niedergeschlagen, ihr Beispiel prägt die marxistische Staatstheorie aber bis heute. Staat und Revolution hat durch die systematische Zusammenstellung der Kernaussagen des Marxismus einiges dafür geleistet.

Demokratie und Diktatur im Lichte des Marxismus


Gerade in Hinblick auf die Beamten-Diktatur, die Jahre später in Lenins Namen in Russland und der DDR errichtet wurde, verblüfft der geradezu libertäre Grundton bei Lenin. Manche Kritiker behaupten deshalb, Lenin habe Staat und Revolution gar nicht ernst gemeint, sondern nur geschrieben, um sich anderen radikaldemokratischen Strömungen anzubiedern und so die Macht zu erringen. Dagegen spricht einiges, aber das ist einen eigenen Artikel wert. 

Aber auch unabhängig davon, wie man Lenins Intentionen einschätzt, bleibt die Kernaussage seines Buches überaus bemerkenswert und aktuell. Solange wir aufmarschierende Polizeikohorten im Fernsehen oder vor uns bei einer Demo sehen, sei es in Berlin, London oder Kairo, so lange lohnt sich der Griff zu Staat und Revolution.


Die gekürzte Version des Artikels ist zuvor in der Printausgabe von marx21 erschienen.

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