Freitag, 8. November 2013

Rätekommunismus und Sozialdemokratie (Serie: Geschichte und Rätekommunismus, Teil 1)

Geschichte und Rätekommunismus


Hier geht es um die "rätekommunistische" Strömung unter den sozialistischen Theoretikern und um ihre Beziehung zur Geschichte. In verkürzter Form erschien dieser Artikel schon auf der Homepage des SDS Köln.

Eigentlich sollte eine Fortsetzung erfolgen. Dazu kam es aber bislang nicht. Man musste halt studieren, lohnarbeiten, demonstrieren und so. Nun aber soll das wieder gut gemacht werden. 

Der erste Teil erscheint in abgewandelter Form also erneut, um von mehreren Teilen ergänzt zu werden. Im ersten Artikel geht es um den Rätekommunismus als Reaktion auf die Sozialdemokratie.

Die Behandlung dieser Strömung ist deshalb interessant, weil sie Gelegenheit bietet, eine Kritik an den Ansichten der "Rätekommunisten" und heutigen Ultralinken zu formulieren, was der radikalen Linken in Deutschland vielleicht ein wenig helfen kann. Auch ist es eine Gelegenheit, die deutsche, russische und chinesische Geschichte aus revolutionsfreundlicher Perspektive darzustellen und zu einander in Beziehung zu setzen. Denn die Frage der Räte ist mit der weltweiten Revolution eng verwoben gewesen und ist es wohl noch immer.

Am Ende der Artikelreihe sollten sich die Leser und Leserinnen drei Fragen selbst beantworten können:
  1. Wieso ist die sozialistische Revolution so cool und Kapitalismus so verdammt uncool? 
  2. Sollten die Menschen mehr marxistische Klassiker lesen und sich über ihre eigene Geschichte richtig schlau machen? 
  3. Wer hat uns verraten? ;-) 

Der Rätekommunismus als ultralinke Reaktion auf Sozialdemokratie und Bolschewismus


Die Rätekommunisten waren als eigenständige Denkrichtung in den 20ern entstanden, nach der zunächst erfolgreichen Räterevolution in Russland 1917 und der gescheiterten Räterevolution in Deutschland ab 1918. Ihre Vertreter waren meist enttäuschte Mitglieder der Sozialdemokratie, ihrer Abspaltungen (USPD z.B.) oder der kommunistischen Parteien. Anfangs gründeten sie eigene Parteien (KAPD z.B.), später aber lehnten sie jede Parteiorganisation ab und gründeten Gewerkschaften (AAUD), nur um noch später sowohl parteiferne wie gewerkschaftsferne Organisationen (z.B. die AAUE) aufzubauen. 

Sie sahen weder in der Sozialdemokratie noch im Bolschewismus eine Lösung der Probleme im Kapitalismus. Andererseits sahen sie in beiden Richtungen gefährliche Verfälschungen des Marxismus, wie sie selbst ihn deuteten. Die größte Bedeutung erhielten sie in Mitteleuropa, vor allem in Deutschland und Holland. Zu den wichtigsten Vertretern gehörten Anton Pannekoek, Otto Rühle, Herman Gorter, Paul Mattick und Cajo Brendel. Von Brendel stammt das folgende Zitat, welches das zentrale Argument der Rätekommunisten beinhaltet:

Lenin versteht nicht, daß die strategischen Konstruktionen, die er in seiner historisch-paradiesischen Unschuld herstellt, auf die Kampfhandlungen der Arbeiterklasse und deren jeweiligen Ausgang nicht mehr zugeschnitten sind, sobald die Arbeiter die Früchte des Gartens Eden geprüft [...] sobald sie selbst den Inhalt ihrer Kämpfe und sodann auch deren Form, das heißt ihre Kampfmethoden zu bestimmen angefangen haben; sobald nicht länger die bürgerliche, sondern fortan die proletarische Revolution die gesellschaftliche Perspektive bildet.

Lenin spielt in der Argumentation der Rätekommunisten eine herausragende Rolle. Er wird in den folgenden Artikeln noch eine große Rolle spielen. Zunächst wird er aber nur kurz erwähnt, da es hier eher um die Revolution in Deutschland geht.

Der ökonomische Fatalismus der Rätekommunisten


Die Rätekommunisten waren grundsätzlich Ökonomisten und damit Fatalisten. Unter Ökonomismus kann man eine Konzentration und Überbetonung der Wirtschaft verstehen. In Russland wurden z.B. bis zur Oktoberrevolution 1917 Vertreter sozialistischer Theorien als Ökonomisten bezeichnet, die auf die fortschrittliche Entwicklung des russischen Kapitalismus hofften und zu radikale politische Kämpfe daher ablehnten. Sie waren daher Gegner der kommunistischen Fraktion um Lenin und Trotzki. Fatalisten glauben an ein unausweichliches Schicksal (lat. "fatum"), das unabhängig vom Willen der Menschen entweder zum Guten oder Schlechten führen wird.

Die Rätekommunisten sind als ökonomische Fatalisten in der kapitalistischen Gesellschaft Anhänger des Glaubens an die mehr oder weniger automatische Selbstzerstörung des Kapitalismus. Revolutionäres Handeln müsse nicht vorbereitet, nicht mühsam organisiert und erst Recht nicht von einer Partei angeführt werden. Rätekommunisten argumentieren mit der "Reife der Klassenverhältnisse", die unweigerlich zur sozialistischen Revolution führe. Die Reife der Klassenverhältnisse sei die Vollendung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, dessen Resultat nur die erfolgreiche sozialistische Revolution sein könne. Die Vollendung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit führe aber zwangsläufig zur Zertrümmerung der kapitalistischen Ordnung und zur Aufhebung dieses Gegensatzes. Am Ende stehe die klassenlose Gesellschaft, in der es den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr gebe. 

Der marxistische Standpunkt sei der der ökonomischen Gesetzmäßigkeit hin zur Selbstbefreiung der Arbeiterklasse in dem Moment, in dem die Arbeiterklasse nicht noch weiter ausgebeutet werden kann und somit gezwungen ist, die Revolution zu machen. Zwang zur Revolution ist das A und O der Rätekommunisten. Bis zu diesem Zeitpunkt sei jeder Revolutionsversuch ein verfrühter Willensakt, der den objektiven Verhältnissen nicht entspricht. Ohne die Vollendung der kapitalistischen Klassengesellschaft könne die Vollendung der wirklich menschlichen, klassenlosen Gesellschaft nicht erfolgen.

Erst die zahlenmäßige Überlegenheit der Arbeiterklasse und die ökonomische Unabwendbarkeit der Staatszertrümmerung durch die Arbeiterklasse ermöglichen die proletarische Revolution. Sie könne also nicht von einer Minderheit, auch nicht von einer proletarischen, gemacht werden. Sie könne nur von der ganzen Klasse in einem ziemlich kurzen Zeitraum gemacht werden, in dem die ganzen klassenkämpferischen Ausbrüche der Vergangenheit zusammenkommen und in eine revolutionäre Explosion münden.

Da die Revolution ein rein ökonomischer Prozess sei, sei der politische Überbau der Ökonomie unwichtig und gar störend für die Aufgabe der Arbeiterklasse, so könnte man die Argumentation der ultralinken Ökonomisten deuten. Die Aufgabe der Arbeiter sei eine vorwiegend ökonomische: Eroberung der Produktionsmittel in der bürgerlichen Gesellschaft und damit die Kontrolle über diese Gesellschaft.

Teilnahme an der bürgerlichen Demokratie, am Parteiensystem oder gar Regierungsbeteiligung, Mitarbeit in Gewerkschaften und dergleichen – das alles behindere ab einer gewissen Reife der Klassenverhältnisse die proletarische Revolution. Die politische Teilnahme an den Institutionen der bürgerlichen Ordnung sei nämlich reaktionär, sobald die neue und wirklich proletarische Kampfweise sich entwickelt habe: die Räte.

Die fatale Erfahrung mit der proletarischen Revolution und der Niederschlagung der Rätebewegung durch kapitalismusfreundliche Kräfte in Deutschland schien diese Schlussfolgerung zu bestätigen.

Die verratene deutsche Revolution ab 1918


Proletarische Revolution in Deutschland? Ja! Und was für eine! Sie stürzte im November 1918 den Kaiser, zerschlug das deutsche Kaiserreich, führte zum Waffenstillstand zwischen den Krieg führenden Staaten, beendete damit den Ersten Weltkrieg und erkämpfte die wichtigsten demokratischen Rechte in Deutschland. Wie kam es zu dieser Revolution?

Die SPD-Führung war bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch und durch reaktionär geworden. Zu Anfang der Massenschlächterei hatte sie ihre internationalistische Maske abgelegt als sie 1914 im Reichstag den Kriegskrediten zustimmte und nationalistische Propaganda für das deutsche Reich machte. Sie führte die SPD-Mitgliedschaft in den Horror des Weltkriegs. Sie wollte keinen demokratischen Sozialismus und keine internationale Solidarität. Sie unterstützte lieber die Herrschenden im eigenen Land mit dem antisemitischen Kaiser Wilhelm II. an der Spitze. Das Elend der Weltbevölkerung war der SPD-Führung schon damals völlig egal geworden.

Heute, knapp 100 Jahre danach, sieht es nicht viel anders aus. Die SPD-Führung liebt den Krieg noch immer. Und sie hasst die internationale Solidarität und die Revolution noch immer. Sie hasst sie genauso wie es damals schon Friedrich Ebert tat. Ebert, der Vorsitzende der SPD, soll am Ende des Ersten Weltkrieges gesagt haben: „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich will sie aber nicht, ja ich hasse sie wie die Pest.“ Entsprechend hat er den unverzeihlichen Verrat an der proletarischen Revolution seit November 1918 in Deutschland angeführt.

Es kam wie Ebert es voraussagte. "Die soziale Revolution", die er erklärtermaßen hasste, ließ die Verhältnisse im deutschen Reich wild tanzen. Die Oberste Heeresleitung des Kaiserreiches wollte die deutschen Matrosen am Ende des Krieges, der für Deutschland bereits aussichtslos geworden war, sinnlos in den Tod schicken. Die Matrosen meuterten, kehrten aufs Festland zurück und gaben damit eine Initialzündung für eine Revolte großer Teile der Matrosen, Soldaten und Arbeiter im ganzen Kaiserreich. Sie eroberten ganze Städte, da sie bewaffnet und entschlossen waren, gegen die damalige Ordnung anzukämpfen. Spontan organisierten sie sich in so genannten Räten (russisch: Sowjet), die an jedem Ort, an dem es sie gab, eine radikaldemokratische proletarische Staatsmacht bildeten.

Karl Liebknecht, ein Anführer der deutschen Kommunisten, rief am 9. November 1918 entsprechend eine „freie sozialistische Republik“ aus. Die bürgerlichen Politiker in den Parlamenten und lokalen Verwaltungen waren entsetzt, konnten aber zunächst nichts gegen diese sozialistische Republik in Deutschland ausrichten. Die deutschen Streitkräfte waren ja plötzlich auf der Seite des Sozialismus. Um etwas gegen dieses rote "Gespenst" zu unternehmen, vor dem die Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft so furchtbare Angst hatten, mussten sie mit anderen Methoden Gewalt anwenden.

Dazu verbündete sich der erzreaktionäre Verräter Ebert, der übrigens der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) noch immer ihren Namen gibt, ausgerechnet mit den faschistoiden "Freikorps", die die Vorläufer von Hitlers SA waren. Die Freikorps waren ehemalige Soldaten und fanatische Feinde des Sozialismus. Sie terrorisierten die Bevölkerung und töteten unzählige Kommunisten und Demokraten. Sie töteten auch die hervorragenden Anführer der Kommunistischen Partei Deutschlands, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, womit die kommunistische Bewegung in Deutschland geköpft wurde. Ebert soll auch persönlich verantwortlich gewesen sein für die Ermordung seiner ehemaligen Genossen, indem er ihrem Mörder Waldemar Pabst sein Einverständnis zu ihrer Tötung gab.

Das Bündnis der SPD-Führung mit den faschistoiden Freikorps führte aber noch nicht zur Errichtung einer faschistischen Diktatur, sondern zu einer scheinbar demokratischen Diktatur des Bürgertums unter Führung der SPD. Die Freikorps hatten gerade genug Kraft gehabt, um die Arbeiterbewegung zu besiegen, aber nicht genug, um eine eigene Diktatur aufrecht zu erhalten. Also einigten sie sich mit der SPD-Führung bzw. wurden von gemäßigteren Kräften unterdrückt, wo sie zu mächtig wurden. Als Lohn für seine Demokratie verachtende Haltung konnte Friedrich Ebert dann Präsident der Weimarer Republik werden, die auf den Gebeinen der deutschen Räterepublik errichtet wurde. Eine Diktatur des Bürgertums war diese Republik deswegen, weil jeder Versuch, die engen Schranken der bürgerlichen Eigentumsordnung zu überwinden, von Vertretern dieser Ordnung niedergeschlagen wurde. Die Wahl eines Reichtags oder eines Reichspräsidenten konnte dagegen toleriert werden.

Bürgerliche und proletarische Revolution in Deutschland


Die Rätekommunisten schlossen sehr richtige und sehr falsche Ideen aus der Erfahrung mit der deutschen Revolution. Sie betonten ganz zu Recht: Der Charakter der proletarischen Revolution ist ein völlig anderer als der der bürgerlichen Revolution. Die bürgerliche Revolution werde von einigen wenigen Vertretern der bürgerlichen Klasse, die in Parteien organisiert sind, gegen die Reaktion der Feudalherrscher durchgesetzt. Sie sei die Machtergreifung der bürgerlichen Klasse und der Sturz der feudalen Klasse. Das Resultat sei immer die Durchsetzung der bürgerlichen Ordnung mit all ihren Regeln, Gesetzen und Werten. Natürlich sei das Eigentum der Bürger, der Kapitalisten, dabei der höchste Wert. Der bürgerliche Staat nutze für die Aufrechterhaltung dieser Ordnung allerhand Herrschaftstechniken.

Zu diesen Techniken gehören die Anwendung von Polizei, Armee, Geheimdienst, aber auch von Parteien, Parlamenten und Gewerkschaften – allgemein: die bürgerlichen Institutionen. Außerdem gehören zu diesen Techniken noch alle Formen bürgerlicher Ideologie, die so unterschiedliche Bereiche wie Erziehung, Bildung, Wissenschaft, Religion, Kunst und Familienleben einbezieht. So weit sind die Ansichten der Rätekommunisten gar nicht falsch und bemerkenswert. Andere Schlussfolgerungen der Rätekommunisten sind jedoch nicht nur bemerkenswert, sondern bedenklich und geradezu irreführend.

Wie deuteten die Rätekommunisten die deutsche Revolution ab November 1918? Sie loben die Aufbäumung der proletarischen Klasse gegen das Kaiserreich und den Sturz des Kaisers. Sie feiern natürlich den Aufbau einer Rätemacht und die Ausrufung einer sozialistischen Räterepublik durch Liebknecht. Den Verrat der SPD an dieser Räterepublik verurteilen sie. Die Errichtung der Weimarer Republik war ihrer Argumentation zu Folge kein allzu großer Erfolg für die Arbeiterbewegung, sondern bloß die Ersetzung einer Form der Klassendiktatur durch eine ebenso schlechte. Das Kaiserreich wurde durch eine Republik ersetzt. Aber das Proletariat ist nicht an der Macht geblieben, sondern wurde entmachtet.

Luxemburg und Liebknecht werfen die Rätekommunisten vor, nicht weit genug gegangen zu sein. Sie hätten als Protest gegen den Verrat der SPD keine Kommunistische Partei gründen sollen, sondern eine Arbeiterorganisation, die von bürgerlichen Institutionen radikal verschieden hätte sein müssen. Parteien und Gewerkschaften müssen im Rahmen der bürgerlichen Ordnung bleiben, wie die Ultralinken seit jeher annehmen. Einzig die Räte können demnach die bürgerliche Ordnung herausfordern und stürzen. Einzig die Räte seien die Organisationsform einer sozialistischen Gesellschaft. Daran könne man im Grunde jede Revolution messen. Die SPD habe ja offenbar die Räterepublik und die Rätebewegung niedergeschlagen und die KPD habe schlicht versagt. Die SPD und die KPD seien nämlich von vornherein keine proletarischen Institutionen mit revolutionärem Potenzial gewesen.

Die Niederlage der Novemberrevolution in Deutschland könnte man daher als natürliches Resultat der Unreife der Klassenverhältnisse und als Übermacht der bürgerlichen Institutionen verstehen. Demnach wäre es kein Wunder, dass die Räterepublik schnell erschlagen wurde, da die Arbeiterbewegung von der SPD, einer sich sozialdemokratisch nennenden bürgerlichen Partei, und der KPD, einer sich kommunistisch nennenden bürgerlichen Partei, geführt wurde. Die bürgerliche Führung der proletarischen Bewegung habe also zur Niederlage des proletarischen Revolutionsversuches und zum Sieg der bürgerlichen Revolution geführt.

Da ist was dran, aber dazu später mehr. Kommen wir erstmal zum Ende dieses Artikels. Im nächsten Artikel gehe ich näher auf die russische Revolution und die Kritik der Rätekommunisten an den russischen Kommunisten, den Bolschewiken, unter Führung Lenins ein.

Des Kaisers neue Kleider - eine Filmkritik zu "Inside Wikileaks"

Die übermutigen Cyber-Revoluzzer gegen die übermütigen Kaiser von heute

“Inside Wikileaks” inszeniert ein Drama rund um den “Verrat” von Julien Assange an den Mächtigen dieser Welt. Aber der Film handelt vor allem davon, wie sich ein Held des 21. Jahrhunderts weigert, seine eigene Beschränkung einzugestehen und dabei in scharte Konflikte mit seiner Umwelt gerät.

Der Film beginnt mit einer kurzen Sequenz, in der die Geschichte der Kommunikationstechnologie schnell nachgespielt wird. Das soll wohl die zentrale Frage des Films, zu der ich später zurückkomme, anschaulich machen.

Es folgt eine großartige Inszenierung des heutigen Berlins, das auch im Film von Mate trinkenden Hipstern dominiert wird. Das moderne Berlin ist der Ort, an dem die zwei Protagonisten Julien Assange und Daniel Domscheit-Berg bei einem Meeting von Technikfreaks aufeinandertreffen. Da der Hacker Assange für seinen geplanten Angriff auf die Mächtigen von heute einen Partner benötigt, erklärt er den technisch ebenso begabten Domscheit-Berg kurzerhand zu seinem Schüler. Letzterer fährt mit seinem Cityrad locker-flockig vor seinem Chef durch die Büroräumlichkeiten der IT-Firma, für die er arbeitet. Schon alleine diese Darstellung des hippen Berliner Yuppie-Milieus verdient Hochachtung.

Aber der Film kommt schnell aus der Hipster-Idylle heraus, in der er zunächst noch verharrt. Sobald es zu einer Annäherung an den charismatischen Assange kommt, wird die Atmosphäre düsterer. Bei Unterhaltungen mit seinem jüngeren Partner lässt er erahnen, dass er nicht nur schmerzhafte Erfahrungen mit seiner Familie, sondern auch mit seinen ehemaligen Hacker-Freunden und der Staatsmacht gemacht hat. Die anderen Hacker haben ihn verraten, nachdem sie bei einer staatsfeindlichen Aktion aufgeflogen waren. Er alleine wurde bestraft. Man wird den Eindruck kaum los, dass Assange daher niemandem wirklich vertraut und andere Menschen aus Selbstschutz daher nur noch als Mittel zu eigenen Zwecken nutzt.

Dennoch erscheinen beide Protagonisten als durchaus sympathische Charaktere. Während Domscheit-Berg idealistisch und naiv wirkt, erscheint Assange wie ein abgeklärter alter Hase mit dickem Fell. Aber auch Assange glaubt offenbar fest an gewisse Ideale wie "Wahrheit, Gerechtigkeit, die amerikanischen Werte", wie sogar seine politische Kontrahentin im weißen Haus eingestehen muss. Assange und Domscheit-Berg werden zu erklärten Gegnern des weißen Hauses, weil sie planen, der ganzen Welt mit ihrer Internetplattform "Wikileaks" streng geheime Informationen der US-Geheimdienste bereitzustellen.

Die Relativität von Verrat und Aufklärung

Im Film werden verschiedene Perspektiven zu diesem Vorhaben dargestellt. Die Beteuerungen der Mächtigen in den USA wirken wie die plattesten Diffamierungversuche gegen die neuen Helden des 21. Jahrhunderts. 

Ähnlich wie dem bloßgestellten und verratenen Kaiser im Märchen “Des Kaisers neue Kleider” geht es den Herrschenden der Welt von heute, die durch die Enthüllungssplattform Wikileaks von Julien Assange und weitere “Whistleblower” wie Daniel Domscheit-Berg, Bradley Manning und Edward Snowden bloßgestellt wurden. Diese sollen nun als “Verräter” diffamiert und bestraft werden - ganz so als würde das das Image der Mächtigen retten.

Aussagen wie “Julien Assange ist ein Terrorist” kommen im Film ebenso vor wie der Versuch, den Mord an Zivilisten durch US-Soldaten zu bagatellisieren, den die beiden Protagonisten im Film aufdecken. Die führenden Köpfe im Weißen Haus erklären die Hacker von Wikileaks für gefährlich, weil sie durch Aufdeckung verdeckter Operationen überall auf der Welt Menschenleben in Gefahr bringen.

Andererseits kommt es zur Selbstbejubelung der Film-Helden. So z.B. nach einem aufgedeckten Skandal, wobei unsere beiden Hacker stolz feststellen: “Wir haben eine milliardenschwere Bank platt gemacht.” Assange und sein Partner sind sich der Gefahren und Risiken bewusst, aber sie halten ihre "Mission" für gewichtiger als das Schicksal Einzelner.

Beide Seiten werden gut dargestellt.Der Film veranschaulicht auf diese Weise die Relativität von Verrat und Aufklärung. Es kommt ganz auf den Standpunkt an. Der Film versackt aber nicht in Beliebigkeit. Er betont die historische, beinahe epische Bedeutung dieses Konfliktes zwischen einzelnen Aufklärern und den "Sicherheitsbedürfnissen" ganzer Staaten heute.

Die Dramatik der heutigen Cyber-Revoluzzer

Abgesehen von dem aufklärerischen Gehalt des Films wird vor allem das Drama eines neuen Heldentypus im 21. Jahrhundert, des Cyber-Revoluzzers, überaus eindringlich dargestellt. Die Dramatik der Protagonisten hat mehrere Konfliktlinien

Da ist der Konflikt zwischen Privatem und Aufopferung. Das zeigt sich zunächst am Konflikt zwischen Assange und Domscheit-Berg. Zusammen entlarven sie eine Machenschaft nach der anderen und werden mit jedem neuen Skandal begeisterter von ihrer “Mission”.

Auch in Sachen Gender-Thematik veranschaulicht der Film ein relativ modernes Phänomen: den Konflikt zwischen der modernen Arbeitsdisziplin und der scheinbar gleichberechtigten, lockeren und daher wenig romantischen Beziehung von Mann und Frau. 

Unter dem Gewicht der Besessenheit der beiden “Whistleblower” zerbricht die postmoderne Beziehung des Jüngeren mit seiner Freundin Anke. Obwohl es eine moderne Beziehung zu sein scheint, die beiden relativ viele Freiheiten ermöglicht, geht die Beziehung zugrunde, weil Daniel sich in seine aufklärerische Mission vielleicht zu sehr hineinsteigert. 

Das Päärchen lässt sich sogar von Assange beim Techtelmechtel stören als jener einfach in Daniels Wohnung hinein geplatzt kommt, um ihre "Mission" zu vollenden. Übrigens sieht man Anke praktisch nur in der wohlig warmen Intim-Privatsphäre (oder wie man das bei Hackern nennen mag, die im Privatleben zu Weltrettern werden) rund um das Bett herum.

Außerdem prallen die Egos und Ansichten der beiden Mate trinkenden Helden immer wieder aufeinander. Assange erscheint als “ein manipulatives Arschloch” und Weiberheld, der seinem Partner diese Rolle missgönnt. Zudem wird immer deutlicher, dass Wikileaks für den fiktiven Assange vor allem ein Mittel zur Befriedigung seines Narzissmus geworden ist.

Diese charakterlichen Gegensätze führen zum politischen Zerwürfnis. Denn Assange will alle “Leaks” der Mächtigen unzensiert veröffentlichen, während Domscheit-Berg das für gefährlich hält und sich mit der Redaktion des Guardian auf eine gekürzte Veröffentlichung einigen will, um keine Menschenleben zu gefährden. Mit dem privaten Konflikt vermischt sich also der moralische Konflikt.

Gefährdung von Menschenleben durch Aufklärung wird immer wieder thematisiert. In einer Szene werden Informanten von Wikileaks getötet. Empört kommentiert Assange: nur eine stärkere Öffentlichkeit garantiere Schutz vor den Mächtigen. Assange folgert aus solchen Erfahrungen: “Du kommst nicht weit in dieser Welt, wenn du dich auf andere verlässt.” Auch deswegen steigert sich sein Ego zu unermesslicher Prahlerei: “Ich mache keine Fehler”.

Damit wird trotz der heroischen Mission der Cyber-Revoluzzer ihr Privatleben nicht glorifiziert, sondern wahrscheinlich durchaus realistisch dargestellt, womit wir zum nächsten Thema kommen: zum eigentümlichen Realismus des Films.

Künstlerischer und dokumentarischer Realismus im Film

Der Film stellt die wichtigste Frage am Anfang des 21. Jahrhunderts: Wie kann die “fünfte Gewalt”, d.h. der Lobbyismus der Reichen und Mächtigen, mit einer Demokratisierung der Meinungshoheit einhergehen? Anders als die unausgeschlafenen Kritiker in ZEIT, SZ, Spiegel und taz behaupten, traut sich der Film sehr wohl, eine Antwort auf diese Frage zu geben. In der faz wird das auch anerkannt, wobei jedoch die überzeugende schauspielerische Darstellung der Charaktere als "Anmaßung" verurteilt wird. Dass diese Anmaßung gerechtfertigt ist, zeigt die Botschaft, die Assange im Film fast (!) wörtlich so übermittelt:
"Niemand sagt dir je die Wahrheit. Wenn du die Wahrheit suchst, geh los und such sie. Genau davor haben die Reichen und Mächtigen Angst. Vor dir! Es dreht sich alles um dich!"
Wenn die Kritik in der Berliner Zeitung mahnt, der Film sei “gefährlich”, weil “er fiktive Ereignisse mit realen Videomitschnitten vermengt”, dann ist teils zuzustimmen. Aber es ist sicher übertrieben, wenn man meint, dieser Streifen sei “ein sehr perfider Propagandafilm” gegen Assange und Wikileaks.

Man sollte zwar die Kritik des echten Assange am Film kennen, aber diese ist vor allem eine politische, keine ästhetische. Ja, der Film ist fiktiv. So what? Wäre es ein Propagandafilm, dann hätte man Assange nicht als visionären und charismatischen Idealisten dargestellt, dessen Taten von größter historischer Bedeutung sind. Auch dass Domscheit-Berg in Wirklichkeit anders zu Assange stand, kann dem Zuschauer zunächst ziemlich egal sein.

Obwohl der Konflikt zwischen dem Ego von Assange und Domscheit-Berg im Vordergrund des Films steht, ist er nicht sein Hauptmotiv. Das ist viel mehr die Lage der Cyber-Revolutionäre, die in bisher wenig dargestellte Gefahren geraten, die sie mit eigenen Mitteln überwinden müssen. 

Der Film versucht, diese Dimension des Themas auch visuell darzustellen. Digitale Daten werden als Unmengen von beschriftetem Papier dargestellt, dass in absolute Unübersichtlichkeit gerät. Die Verschlüsselungstechniken und Firewalls der Hacker werden durch Multiplikation der Hacker und ihrer Ausrüstung an undefinierbaren Orten dargestellt. Die Mobilität der Hacker wird durch Split-Screening und schnelle Bildwechsel veranschaulicht. Das sind zumindest einige Effekte, mit denen sich der Film bemüht, die Raum- und Zeitlosigkeit der neuen Medien zu erfassen.

Der Film “Inside Wikileaks” ist vor allem ein Spielfilm. Ein Spielfilm ist keine “realistische” Doku. Er soll eine fiktive Handlung darstellen, die uns beeindruckt, uns gedanklich oder emotional provoziert, die uns etwas über die fiktive Welt und über unsere Welt sagt. Und wenn er über unsere reale Welt aufklärt, muss er es aber nicht dokumentarisch oder naturalistisch tun. 

Es reicht, wenn die Rezipienten des Films in die richtige Richtung gestoßen werden. Von da aus können sie hoffentlich selbstständig zu einer realistischen Kritik des Films navigieren. Er ist damit weder völlig von der Realität losgelöst, noch an eine ganz bestimmte Darstellung gebunden. Er muss uns etwas über die Realität sagen können, aber er muss nicht im Detail alle Fakten auf bestimmte Weise anordnen. Deswegen ist der Film keineswegs ein perfider Angriff auf Assange, obwohl die Handlung des Films auf zwei Assange-kritischen Büchern beruht.

Ein filmisches Märchen über die neuen Kleider der heutigen Kaiser

Dieser Film ist zwar keine Doku und an vielen Stellen ändert er die bekannten Tatsachen einfach um. Er basiert auf dem Inhalt von zwei einschlägigen Büchern, die wohl einseitig darüber berichten, was gerade auch den echten Assange dazu gebracht hat, gegen den Film zu protestieren. Aber der Film erfasst dennoch ein wichtiges Thema der heutigen Gesellschaft.

“Inside Wikileaks” ist ein filmisches Märchen über die transparenten Kleider von “Präsidenten, Königen, Despoten”. Kein Zuschauer des Films kann an der neuen Realität des Informationszeitalters vorbeigehen ohne sich zu positionieren. Der Gegensatz zwischen der fünften Gewalt, dem Lobbyismus der Mächtigen, und der vierten Gewalt, der demokratischen Öffentlichkeit, ist nicht mehr zu leugnen. Sogar die heutigen “Kaiser” müssen sich heute öffentlich rechtfertigen. Ihre dreckigen Geheimnisse wurden auf dramatische Weise auch durch diesen Film verraten.

Im Film geht es um “fähige Menschen mit Format, die was bewegen” und die mit zunehmender Erfahrung “irgendwann eigene Vorstellungen” entwickeln, selbst wenn sie von den “Tyrannen dieser Welt” dafür diffamiert werden, wie der fiktive Assange sinngemäß sagt. Allerdings wird in “Inside Wikileaks” auch deutlich, wie wenig Macht auch ein Assange im Alleingang hat. Die Lösung für diese Ohnmacht nennt der fiktive Assange im Film mehrfach beim Namen: “Revolution”.

Staat und Demokratie heute

„Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.“ (Karl Marx)

Die „fertige Staatsmaschinerie“

Die „fertige Staatsmaschinerie“, ein Haufen von Menschen, die mit Handschellen, Strafgesetzbüchern und Gewehren bewaffnet sind; ein Haufen von Menschen, die in Panzern, im Anwaltsbüro oder in der Regierung sitzen; ein Haufen von Menschen, die andere Menschen von Politik abhalten, den Lebensstandard anderer Menschen künstlich senken und ihre Forderungen nach mehr Demokratie, Freiheit und eigenen Zwecken bekämpfen; schließlich ein Haufen von Menschen, die die ökonomische Ausbeutung einer Bevölkerungsklasse durch die andere mit politischen Mitteln sicherstellen.
Wenn Marx davon spricht, dass die Arbeiterklasse - diejenigen Menschen also, die lohnabhängig sind und für die Kapitalistenklasse das Kapital erarbeiten sollen - diese fertige Staatsmaschinerie nicht „einfach“ so in Besitz nehmen und für ihre eigenen Zwecke nutzen kann, dann meint er damit, dass zuerst die Beziehung der Bevölkerung zum Staat verändert werden muss.

Staatsgewalt gegen Protest

Der fertige Haufen von Staatsdienern ist für gewöhnlich anderen Interessen als den Interessen der breiten Bevölkerungsmassen verpflichtet. Dieser Haufen rettet immer wieder die Banken vor dem Pleitegang. Er senkt dafür den Lebensstandard seiner Bevölkerung, oder der Bevölkerung anderer Staaten - wie der deutsche Staat es z.B. gegenwärtig mit der griechischen, zypriotischen und portugiesischen Bevölkerung tut und später ähnlich wohl mit der deutschen Bevölkerung tun wird. Er unterdrückt Proteste nicht nur gegen Mubarak, Mursi, Assad und Putin mit körperlicher Gewalt, sondern auch solche gegen „Stuttgart21“, aber auch Anti-Nazi-Blockaden und Krisenproteste.

Der demokratische Arbeiterstaat

Bevor die Staatsmaschinerie von der Arbeiterklasse in Besitz genommen werden kann, muss die Arbeiterklasse eigene Organe der Demokratie schaffen, in denen nicht der alte fertige Haufen Staatsdiener dominiert, sondern die demokratischen und die progressiven Kräfte. Diese Organe stellen, sobald sie die alte fertige Staatsmaschinerie herausfordern, einen eigenen Staat dar. Dieser demokratische Staat ist die einzige Organisation, die zukünftig die„die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“, durchsetzen kann. Er ist die Kristallisation dieser Bewegung und der bereits bestehenden Staatsmacht ein Dorn im Auge. Deswegen die Unterdrückung spontanen Protests, deswegen die Geheimdienste, deswegen die Beschneidung von bürgerlichen Freiheiten, die Deckung faschistischer Kräfte und die ganzen V-Männer und V-Frauen in linken Zusammenhängen.
Die fertige Staatsmaschinerie war für Marx eine zu überwindende Schranke für die Demokratie. Und sie ist es noch immer für uns und unsere Demokratie.

Die Definition des Kommunismus bei Marx


„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt Bestehenden Voraussetzung.“ (Marx/Engels)

Das war ausgerechnet die Definition des Kommunismus bei den Oberkommunisten Marx und Engels. Wie kommt denn sowas? Der Kommunismus sei also kein Ideal, wonach sich die Wirklichkeit zu richten habe? Sind denn die Kommunisten nicht Utopiker, die eine ideale Gesellschaft verwirklichen wollen?


Kommunismus keine Utopie?


Immer wieder wird den Kommunisten gleichzeitig vorgeworfen, utopisch, idealistisch, unrealistisch, unwissenschaftlich und natürlich unmoralisch zu sein. Ihre Ideen seien höchstens schöne Ideen, die aber nie und nimmer durchführbar seien. Der Mensche sei unfähig, solch utopische Ideen durchzusetzen. Die Gesellschaft funktioniere nun einmal nicht so wie die Kommunisten es sich wünschen. Außerdem würden die Kommunisten immer die schöne Idee von der schrecklichen Praxis getrennt werden. Man müsse ja nur in die UdSSR, nach China, Nordkorea oder Kuba blicken etc. blabla. Der Kommunismus sei also im besten Fall eine schöne unrealistische Idee, im schlimmsten Fall eine dumme Idee, die unbedingt zu schrecklicher Realität führen müsse. Entweder sinnlose Phantasterei also oder Terror, Diktatur, Totalitarismus, instrumentalisierte Kultur und Verarmung der ganzen Gesellschaft.

Kommunistische Utopien


Marx und Engels lehnten diese Ansichten ab. Sie brachten aber auch die besten Argumente gegen diese Vorstellungen von Kommunismus. Vor dem Marxismus gab es den sogenannten "utopischen Sozialismus" von Babeuf, Saint-Simon, Fourier und Owen. Marx und Engels kritisierten diese Sozialisten als utopisch, weil sie tatsächlich den Kommunismus als „ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten“ habe betrachteten. Entsprechend versuchten sie, die kommunistische Gesellschaft im Voraus im Alleingang zu skizzieren. Fourier ging so weit zu sagen, die zukünftige Gesellschaft müsse in landwirtschaftliche Gemeinschaften von je genau 1620 Menschen eingeteilt werden. Auch der Alltag wurde teils von diesen Theoretikern im Voraus entworfen. Die utopischen Sozialisten hatten aber keinen anderen Weg zu ihrem Ideal als es anderen Menschen vorzuschreiben. Sie sahen den Kommunismus eben nicht als „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ Diese Mängel der utopischen Sozialisten wurden von den Marxisten behoben.

Die wissenschaftliche Kritik des Kapitalismus


Marx und Engels analysierten den Kapitalismus und seine Widersprüche hingegen wissenschaftlich. Aus diesen Widersprüchen ergab sich ihr Verständnis des Kommunismus als wirkliche Bewegung im Gegensatz zu den utopischen Vorstellungen des Kommunismus. Indem der Kapitalismus ständig Menschen ökonomisch ausbeutet und verlendet und indem der kapitalistische Staat die Menschen unterdrückt und die Demokratie arg beschränkt, provoziert der Kapitalismus immer wieder auch Widerstand. Die Menschen sehen, dass sie Reichtum produzieren, aber nur wenig davon abbekommen. Sie sehen, dass sie in einer Demokratie leben, die immer weniger Teilhabe ermöglicht. Sie wünschen sich eine gerechtere Reichtumsverteilung und eine demokratischere Gesellschaft. Und sie kämpfen für Umverteilung und Demokratie. Genau diese Wünsche und ihr Kampf sind die wesentlichen Gründe dafür, den Kommunismus als die wirkliche Bewegung zu verstehen.

Selbstbefreiungskämpfe im Kapitalismus = Kommunismus


Diese Bewegung existiert tatsächlich schon in der kapitalistischen Gesellschaft. Jeder Kampf um bessere gesellschaftliche Verhältnisse, um gesellschaftlichen Fortschritt ist also „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ Es ist dabei nachrangig, ob es Kommunisten, Sozialdemokraten, diskriminierte Homosexuelle, sexistisch unterdrückte Frauen oder sich für unpolitisch haltende Menschen in der „Occupy“-Bewegung sind, die da kämpfen. Entscheidend ist, dass sie unabhängig davon, was sie kurzfristig und bewusst wollen, Selbstbefreiungskämpfe führen. Genau diese Kämpfe heben die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft auf. Wenn sich die Menschen von Klassengesellschaft, Ausbeutung, Verelendung, staatlicher Unterdrückung und der Beschneidung der Demokratie befreien, dann machen sie Kommunismus. Daher versuchen Kommunisten all solche Kämpfe zu unterstützen, die zu mehr Freiheit führen. Dass das nicht immer klappt, wie gewollt, darf ruhig Thema eines anderen Artikels sein. ;)

„Pars pro Toto“



„Geh doch nach drüben!“  
(Der Alltagsdogmatiker auf der Straße oder in der WG zum Kommunisten)

„Das Wahre ist das Ganze“  
(Georg Wilhelm Friedich Hegel)


"Pars pro Toto" als bürgerliche Ideologie


In diesem Aufsatz wird ein wichtiges ideologisches Problem behandelt: die Verabsolutierung, das heißt, die Übertreibung der Bedeutung des Teils gegenüber der Gesamtheit einer Sache. Der Teil wird dabei wie die Gesamtheit behandelt, obwohl er eben nur ein Teil ist. Dieses „Pars pro Toto“ dient der herrschenden bürgerlichen Ideologie als Verschleierungsmittel.

Der ach so böse Mensch


„Der Mensch ist zu schlecht/böse/egoistisch/dumm/faul“ für eine bessere Gesellschaft, sagen resignative Menschen den Linken so gut wie immer in belehrendem Ton, sobald es zu einer Diskussion kommt, die länger dauert als ein Werbespot und gefälligst ein Ende finden soll. Das ist ein klassisches und häufiges Beispiel der Verabsolutierung eines Teils unter Verschleierung der Gesamtheit. Die ganzen guten Seiten des menschlichen Tuns werden kurzsichtiger Weise ausgeblendet. Übrig bleibt dann natürlich nur noch das Schlechte am Menschen. Das empirische Faktum, dass die Menschen sich gegenwärtig und auch historisch nicht immer allzu gut behandelt haben, wird so verabsolutiert. Eine Teilwahrheit wird zur absoluten Wahrheit gemacht. Damit wird aber die Wahrheit durch Unwahrheit, durch Unsinn oder Lüge ersetzt. Krass dabei ist, dass sehr viele Menschen darin die ewige und sehr tiefe Wahrheit erkennen wollen. Die Phrase über den Menschen, der unfähig zu Besserem sei, dient der Selbsttäuschung und Täuschung Anderer. Sie ist Teil des notwendig falschen Bewusstseins der Menschen im Kapitalismus, die nicht wirklich an der Verbesserung und am Fortschritt der Gesellschaft teilnehmen. Sie rationalisieren durch diese Ideologie ihre eigene und die allgemeine gesellschaftliche Misere im Kapitalismus.

Stalinismus = Kommunismus?


„Was, du bist Kommunist? Dann geh doch nach Nordkorea! Dann weißt’ Bescheid, wie der Kommunismus aussieht!“, wird dem Kommunisten auch oft von im Gesicht ganz rot angelaufenen Dumpfbacken an den Kopf geworfen. Früher wurde statt des Wortes „Nordkorea“ das Wort „drüben“ für die DDR benutzt. Das Argument ist einfach: einmal schlecht, immer schlecht. Der Ostblock samt seinen ganzen „demokratischen Republiken“, „Volksrepubliken“ etc. wird nicht nur fälschlicherweise für Kommunismus gehalten, sondern er wird auch noch als zwangsläufiges Resultat jedes Revolutionsversuches dargestellt. Den Kommunisten wird dann davon ausgehend vorgeworfen, sie wollten wie im Ostblock Terror, Gewalt, Armut für alle und Unfreiheit durchsetzen. Zunächst scheint das Argument einleuchtend zu sein, aber eigentlich ist es genauso plump wie etwa im Jahre 1800 die Behauptung, dass Menschen nie fliegen würden können oder im Jahre 1400 die aristokratische Behauptung, dass Demokratie nicht möglich sein würde. Es gibt viele solcher Argumente, die eigentlich so oberflächlich sind, dass sie nicht wirklich als Argumente gelten können. Sie sind eher Ausreden denkfauler oder naiver Menschen. Als solche Ausreden sind sie aber notwendig ideologischer Schein der am Fortschritt unbeteiligten Menschen.

Die beste aller Welten?


„Die Hybris, die uns versuchen läßt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln“, sagte der Philosoph Karl R. Popper, ein ausgemachter Neoliberaler und Antikommunist. Auch sein Argument verabsolutiert die Teilwahrheit zur absoluten Wahrheit. Bisherige sozialistische Versuche einer Verbesserung der Gesellschaft und ihr Scheitern werden als ganz natürlich dargestellt, so als wäre das Scheitern der sozialistischen Revolution ein Naturgesetz. Zwei weitere Kniffe wendet Popper in seinem Satz an: er verweist auf die bisherige blutige Vergangenheit der angeblichen Weltverbesserer, um von vornherein eine zukünftige weltverbessernde Umwälzung auszuschließen. Außerdem übertreibt er, indem er nicht von der Verbesserung spricht, sondern davon ein „Himmelreich auf Erden“ zu verwirklichen. Das muss natürlich unrealistisch sein. Kommunisten erscheinen so wahlweise als völlige Idioten, naive Narren oder böswillige Terroristen. In jedem Fall erscheint die Utopie einer besseren Gesellschaft unverwirklichbar.

Teilwahrheiten und die Wahrheit


Das sind nur drei Beispiele von vielen vielen anderen Möglichkeiten, eine Teilwahrheit zur absoluten Wahrheit zu machen. Will man der Wahrheit nahe kommen, muss man solche Verabsolutierung des Einzelfalls meiden und aufdecken, wo sie besteht. Denn wie Hegel richtig meinte: „Das Wahre ist das Ganze“ und nicht etwa der Teil, der allein genommen und vom Ganzen abgekapselt bloß eine Unwahrheit ist. Diese Art Unwahrheit ist "notwendig falsches Bewusstsein" im Marxschen Sinne, da der gewöhnliche Mensch die kapitalistische Gesellschaft und ihre komplizierten Teilaspekte für gewöhnlich nicht durchschauen kann. Die Undurchsichtigkeit des Kapitalismus liegt in seinem Wesen. Klassenspaltung, Arbeitsteilung, Staat und ideologische Funktionen sind so organisiert, dass der einfache Mensch sehr viel Zeit benötigt, um das Funktionieren des Systems und die Bedingungen für dessen Ende zu durchschauen. Ihm erschließen sich Teilaspekte relativ schnell und klar, aber das Ganze bleibt ihm meist schleierhaft. Solange sich bei den Menschen kein Bewusstsein ihrer Lage und kein fortschrittliches Klassenbewusstsein im Kampf um die eigenen Interessen entwickelt, bleibt ihnen dieses Ganze, das Wahre, verschlossen.

Die Erkenntnis des Ganzen und die bessere Gesellschaft


Die ideologische Funktion der Phrasen zu Ostblock, Menschennatur und Utopismus von „Gutmenschen“ etc. ist es, die Kritik am Kapitalismus zu beschränken, möglichen Widerstand zu brechen und den status quo zu bewahren. Erst ein Ausbruch aus dem Glauben an solche Phrasen und aus der bürgerlichen Ideologie ermöglicht die Erkenntnis des Ganzen und seine Überwindung hin zu einer besseren Gesellschaft. Vorher wird eine wirklich bessere Gesellschaft natürlich nicht möglich sein. Denn von nichts kommt nichts.

Marxistische Anthropologie als Vortheorie kritischer Wissenschaften

Vereinbarkeit von Marxismus und Anthropologie


„Alle kritische Theorie setzt letztlich einen exakt definierten Begriff des Menschen, eine exakte Definition seines ‚eigentlichen‘ Wesens voraus.“ [1] „Ohne eine marxistische Anthropologie kommen wir nicht weiter“ [2]

Das schrieb der 1995 verstorbene marxistische Theoretiker Leo Kofler provokant. Was genau meinte der selbst unter Linken viel zu wenig bekannte Marxist damit? Wie kommt ein Marxist darauf, die Anthropologie zu verteidigen? Kann man überhaupt von der Anthropologie reden? Und sind Anthropologie und Marxismus miteinander vereinbar?

Koflers relative Unbekanntheit hat zum Teil damit zu tun, dass er diese Vereinbarkeit von anthropologischem Menschenbild und Marxismus verteidigte. [3] Das war Mitte des 20. Jahrhunderts für einen Marxisten äußerst ungewöhnlich und fand keine breite Akzeptanz. Damals verbanden die meisten Marxisten nämlich Anthropologie, die „Lehre vom Menschen“, nicht mit marxistischer Theorie oder kritischen Wissenschaften, sondern eher mit bürgerlicher Scheinwissenschaft oder gar mit reaktionärer, rassistischer und biologistischer Ideologie.

Verständlich, denn Hauptvertreter der Anthropologie wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky waren für ihre politische Nähe zum Nazi-Faschismus und zum autoritären Konservatismus bekannt. Und nicht vermeintlich ewige Eigenschaften der menschlichen Natur wollten die Linken ausarbeiten – das taten genannte Anthropologen ja schon. Vielmehr wollten die Linken die Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit der Menschen herausstellen, um so eine Kritik an Missständen in Gesellschaft und Geschichte formulieren zu können. Denn wenn gesellschaftliche Missstände wie etwa Unterdrückung, Herrschaft, Ausbeutung und Krieg nicht der menschlichen Natur entspringen und damit nicht unvermeidlich sind, dann können sie als geschichtlich veränderbar und damit auch als prinzipiell lösbar betrachtet werden.

Kritisches Potenzial marxistischer Anthropologie?


Anthropologie erscheint entsprechend aus gesellschaftskritischer Sicht als unkritisch, da sie die Verhältnisse als „ganz natürlich“ oder „menschlich“ verewige bzw. anthropologisiere. Sie sei somit bürgerliche Ideologie. Kritische Wissenschaft erscheint dagegen als grundsätzlich „fortschrittliche“ Theorie und Praxis, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse historisiert, sie aufgrund ihrer geschichtlichen Bedingtheit kritisiert und sie so „zum Tanzen“ bringen soll.

Eine klare Unvereinbarkeit von Anthropologie und kritischer Wissenschaft also? Dass dies eine Täuschung ist und dass Koflers eingangs zitierter Satz im Bezug auf kritische Wissenschaften noch immer zutrifft, das ist die Hauptthese dieses Textes. In einem Satz: kritische Wissenschaften dürfen auf eine explizite Anthropologie als „Vortheorie“ nicht mehr verzichten. [4]

Aber: die Diskussion um Anthropologie wird nicht geführt. Ist es nicht völlig überflüssig, eine irgendwie „humanistische“ Anthropologie auszuarbeiten? Gibt es für kritische Köpfe nichts Besseres zu tun? Und klingt „humanistisch“ nicht ohnehin nach bürgerlicher Aufklärung und somit nach der frühkapitalistischen Utopie, welche im Kapitalismus die der menschlichen Natur entsprechende Gesellschaftsform sah? Was sollen denn die Gründe für die Notwendigkeit einer solchen humanistischen bzw. marxistischen Anthropologie heute sein?

Pessimistisches und humanistisches Menschenbild


Das Thema der humanistischen Anthropologie bleibt aktuell, wenn es auch nicht breit diskutiert wird. Wenn heutzutage die konservativen Ideologen, d.h. die Sarrazins, die Sloterdijks, die Westerwellen, die Rüttgers und ihre rot gefärbten „sozialdemokratischen“ Kollegen ihre Vorstellungen medienwirksam machen, so verbreiten sie bewusst oder unbewusst ein Menschenbild, und zwar ein menschenfeindliches, pessimistisches, repressives. 

Es ist ein Menschenbild, das in gewissen Bevölkerungsgruppen wie Migranten, Arbeitslosen, Chinesen, Moslems und in allen ungehorsamen Bürgern von Grund auf faule, integrationsunfähige und daher zu disziplinierende „Schmarotzer“ sieht.

Auch wenn sie die Faulheit, die Weltfremdheit und das Schmarotzertum angeblicher „Leistungsträger“ gerne übersehen, verschweigen und leugnen - somit also nur einem Teil der Menschen diese quasi anthropologischen Eigenschaften unterstellen - betreiben diese Ideologen doch eine Art vulgärer „Lehre vom Menschen“. 

Die mediale Wirkung dieses pessimistischen Menschenbildes ist, dass die Menschen aller Schichten und Klassen allmählich davon überzeugt werden und theoretische wie praktische Konsequenzen daraus ziehen. Da die Menschen „von Grund auf“ faul, integrationsunwillig und parasitär seien, aber zugleich das Ideal des fleißigen, braven und genügsamen Leistungsträgers propagiert und für (fast) jeden Menschen als gültig erachtet wird, so müssen die Menschen entsprechend streng behandelt werden.

Da hilft also nur der negative Anreiz: Missbilligung, Verachtung, materielle und physische Strafen, Zwang oder die Ausweisung sind damit gerechtfertigt. Hier vermischt sich die anthropologisch-konservative Argumentation mit dem Klassenkampfdenken von oben. 

Konkret heißt das oft, dass Lohnkürzungen für Arbeitslose, Entrechtung von Asylanten, rassistische Pauschalisierungen von Ethnien und Verleumdung unliebsamer Bürger durch die Politik betrieben werden kann, ohne dass großer Widerstand zu erwarten ist. Schließlich erscheint dem pessimistischen Menschenbild zufolge Widerstand gegen Repression als unsinnig und „idealistisch“.

Das Menschenbild als Maßstab für menschliche Geschichte


Manch kritischer Kopf wird nun zwar meinen, dies alles sei zwar richtig, aber sogleich rhetorisch fragen: „wozu brauchen wir kritischen Wissenschaftler, Sozialisten und alle mit dem Bestehenden Unzufriedenen in diesem Zusammenhang denn nun eine so genannte marxistische Anthropologie? Geht es nicht ohne?“

Zum einen dürfen sich kritische Wissenschaftler_innen von der politischen Instrumentalisierung von wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Theorien nicht abhalten lassen, zu fragen, ob es anthropologische Grundlagen des Menschen und seiner Gesellschaftsformen gibt. Zum anderen müssten speziell Linke sogar ein besonderes Interesse an einer solchen Fragestellung haben, denn Leo Kofler fragt bspw. rhetorisch zurück:

"Warum sollen von der positivistischen oder bürgerlich-anthropologischen Warte aus besehen Klassengesellschaft und Herrschaft des Menschen über den Menschen einen geringeren Geltungswert besitzen als klassenlose Gesellschaft und Selbstverwirklichung?" [5]

Kofler selbst beantwortet diese Fragen so:


„Eine von der marxistischen Theorie erstrebte humanistische Definition des Menschen ist auf der bloßen Grundlage einer nur historischen Betrachtung nicht möglich, weil auf dieser Grundlage sowohl jeglicher feste Maßstab dafür fehlt, zu beurteilen, was historischer Fortschritt (…) eigentlich ist, wie auch dasjenige unbestimmt und unbegriffen bleibt, was in der Theorie von Marx die ,Selbstverwirklichung des Menschen‘ ausmacht.“ [6]

Kofler verweist hier auf die zwei sich völlig entgegengesetzten Anthropologien und die damit jeweils einhergehenden Menschenbilder, die je einen Maßstab liefern dafür, welche Gesellschaft und Politik der menschlichen Natur entspricht. 

Es ist dieser anthropologische Maßstab, der die Bedeutung der Anthropologie ausmacht. Ohne ihn lässt sich nicht plausibel erklären, weshalb etwa Unterdrückung, Herrschaft, Ausbeutung und Krieg abgeschafft werden müssen. Zyniker denken sich hier sicherlich: „Na und? Lass sie doch Krieg führen etc., wenn sie nicht anders können oder wollen! Menschen sind eben so!“ - Aber das zeigt nur, dass diese Zyniker selbst dem repressiven Menschenbild verfallen sind und nicht sehen, dass ihre Gleichgültigkeit prinzipiell ein Hindernis auch für ihre eigene „Selbstverwirklichung“ ist.

Das pessimistische Menschenbild im Kapitalismus


Das Menschenbild liefert also einen Maßstab für Gesellschaft und Geschichte. Worin besteht aber genau der Unterschied zwischen repressivem und humanistischem Menschenbild? Die in bürgerlichen Ideologien inbegriffene Anthropologie geht davon aus, dass die menschliche Natur bereits alle Missstände der bürgerlichen Gesellschaft erklärt, womit diese als „ganz natürlich“ oder „menschlich“ erscheinen. 

Die bürgerliche Anthropologie versucht aus allerhand empirischem Material, aus dem alltäglichen Verhalten der Menschen in der Konkurrenzgesellschaft und aus ihren großen gesamtgesellschaftlichen Missständen, bestimmte „Triebe“ der Menschen herauszufiltern, um wiederum die schlechten und angeblich unvermeidbaren Seiten der Gesellschaft zu erklären.

Im Grunde entwickelt die bürgerliche Anthropologie ihr Menschenbild unvermittelt aus der kapitalistischen Klassengesellschaft. Ihr menschlicher Maßstab verbleibt daher immer in den beschränkten Möglichkeiten, die den Menschen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ausmachen. 

Wenn sie Lösungen für gesellschaftliche Probleme anbietet, kommt sie daher nur zu temporären und oberflächlichen Scheinlösungen, da sie die eigentlichen Ursachen ja im Menschen „an sich“ und nicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen sieht. Meist sind diese Scheinlösungen dann auch noch repressiver Natur, da Repression sowohl der bürgerlichen Staatsmacht wie dem bürgerlichen Menschenbild entspricht.

Das Menschenbild von Leo Kofler

Die marxistische Anthropologie Koflers hingegen geht umgekehrt davon aus, dass die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse mit all ihren Missständen erst das oberflächliche Menschenbild der anthropologischen Pessimisten erzeugen und rechtfertigen. 

Für Kofler ist der Mensch keineswegs immer identisch mit dem Menschen der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft – sein Menschenbild ist weltoffen und konkret: der Mensch (als einzelner wie als kollektiver) kann „gut“ oder „schlecht“ sein, je nach den gesellschaftlichen Umständen. Ebenso ist für ihn die Gesellschaft nicht immer identisch mit der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Sowohl der heutige Mensch wie die heutige Gesellschaft sind für Kofler nur konkrete Verwirklichungen der menschlichen bzw. gesellschaftlichen Möglichkeiten.

Diese menschlichen Möglichkeiten gewinnt Kofler nicht aus dem empirischen Material und dem Alltag, was er als oberflächlich ablehnt. Er gewinnt sie vielmehr aus der analytischen Abstraktion von konkreter Empirie und Alltag. Das Ergebnis ist die Erkenntnis des menschlichen „Wesens“. 

Dieses menschliche „Wesen“ bleibt bei Kofler jedoch – und das ist ein entscheidender Unterschied zur bürgerlichen Anthropologie - rein formal. Formal heißt hier, dass das „Wesen“ nur als Voraussetzung der konkreten Empirie und des Alltags aufzufassen ist. Es wird für die Möglichkeit von konkreter Gesellschaft bloß vorausgesetzt. 

Es kann daher die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse nicht erklären oder bestimmen, sondern nur der Aufdeckung ihrer Möglichkeit überhaupt und ihrer Möglichkeiten in Zukunft dienen und die Aufdeckung der menschlichen Möglichkeiten ist zugleich das Maß für die „Selbstverwirklichung“ des Menschen. Entsprechend definiert Kofler die Anthropologie: „sie ist die Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit.“ [7]

Kofler begründet damit zwei von einander abhängige Teil-Wissenschaften: die marxistische Anthropologie und die marxistische Geschichtsauffassung. Die Anthropologie ist abstrakt und formal, die Geschichtsauffassung ist konkret und inhaltlich. 

Der formale Charakter ist jedoch nicht zu vernachlässigen, denn erst er ermöglicht die reale, konkrete Geschichte; erst eine solche Anthropologie gibt der kritischen Geschichtsauffassung den Maßstab, wie umgekehrt die Geschichtsbetrachtung der kritischen Anthropologie die Konkretisierung gibt. Beide hängen voneinander existenziell ab. Wird eine von der anderen abgetrennt, verlieren beide ihren ausformulierten Sinn.

Der humanistische Maßstab für linke Kapitalismuskritik


Im Anschluss an die linke Kritik der Wissenschaften kann man sagen: kritische Wissenschaften müssen historisch vorgehen. Sie sind damit Teil der kritischen Geschichtsauffassung. Die kritischen Wissenschaften müssen zynische Moral und Verewigung von Missständen wie etwa bei Sarrazin oder Sloterdijk kritisieren, da sie sonst auf das unkritische Niveau bürgerlicher Wissenschaften fallen. Aber: sie können es nur auf Grundlage eines Maßstabes tun. Dieser fehlt der linken Kritik, wenn sie kein Menschenbild formuliert. 

Der Maßstab, den die marxistische Anthropologie liefert, ist gerade dafür bestens geeignet. Er schützt die Geschichtsauffassung wie alle anderen Wissenschaften sowohl vor der Verewigung historisch-gesellschaftlicher Verhältnisse als auch vor zynischer Moral. Ohne diesen Maßstab ist kritische Wissenschaft letztlich unbegründet und steht bloß in beliebiger und unverständlicher Opposition zur traditionellen Wissenschaft. [8]
Der bürgerlich-pessimistische Zynismus muss und kann nur durch einen anthropologischen Optimismus abgewehrt werden. Die Verabsolutierung der inhumanen gesellschaftlichen Verhältnisse muss durch die Geschichtsauffassung des historischen Materialismus relativiert werden. 

Der Maßstab der Anthropologie sollte daher ausformuliert und konkretisiert werden und zur letztlichen Begründung humanistischer Kritik an Kapitalismus, an repressiven Menschenbildern und an traditioneller Wissenschaft herangezogen werden.

Und nur durch die Abwehr des repressiven Menschenbildes können kritische Köpfe die pessimistischen und resignativen Köpfe von der Richtigkeit und Notwendigkeit der humanistischen Gesellschaftskritik, der kritischen Wissenschaften wie auch des Sozialismus überzeugen. Darin besteht die Bedeutung marxistischer Anthropologie.

Das Wesen des Menschen


Die kritischen Köpfe werden sich nun eine Konkretisierung dieses humanistischen Maßstabes wünschen. Wie genau sieht denn nun dieses „Wesen“ des Menschen aus? Wodurch ist der Mensch definiert?

Erinnern wir uns dafür nochmal an Koflers Definition der Anthropologie: „die Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit.“ Mit der menschlichen Veränderlichkeit befassen sich ja die konkreten geschichtlichen Wissenschaften. Die Anthropologie spezialisiert sich auf die unveränderlichen Voraussetzungen. 

In Koflers Schriften finden sich einige dieser Voraussetzungen, die hier weiter nicht interessieren. [9] Die wesentliche, den Menschen wirklich definierende Voraussetzung seiner Veränderlichkeit aber ist für ihn: „die Identität von Bewusstsein und Arbeit, des weiteren von Bewusstsein, Telos, Arbeit, Vergesellschaftung, Begriff und Sprache“ [10].

Diese Begriffe kennzeichnen laut Kofler bloß verschiedene Ausprägungen ein und derselben menschlichen Eigenart. Sie sind losgelöst von einander unmöglich und undenkbar, sie bedingen einander. Sie machen daher zusammen den qualitativen Unterschied zu allen bloß tierischen Wesen aus. [11] Zugleich räumt Kofler scheinbar im Gegensatz dazu ein: „wenn überhaupt von etwas Gleichbleibendem im Menschen die Rede sein kann, dann ist es seine Veränderlichkeit im historischen Raum.“ [12] 

Das bestätigt aber nur die Bestimmung des menschlichen Wesens als einer bloß formalen Voraussetzung von Geschichte, die angenommen werden muss, die aber für sich genommen die konkreten Inhalte der Geschichte nicht erklärt und daher auch kein abstrakt-ahistorisches Prinzip oder dergleichen ist, welches die Geschichte mache, wie es bei Idealisten angenommen wird.

Aber diese Definition des Menschen als eines bewussten, arbeitenden etc. für sich genommen rechtfertigt noch nicht Gesellschaftskritik, kritische Wissenschaften und Sozialismus.

Der "spielende Mensch"


Erst die weiteren theoretischen Ableitungen aus dieser marxistischen Definition des Menschen, die schließlich zum „spielenden Menschen“ als der eigentlichen sonderbaren Anlage des Menschen führen, rechtfertigen jegliche kritische Abwehr gesellschaftlicher Missstände. Hier ist allerdings nicht genug Raum, die genauen Ableitungen wiederzugeben. [13] 

Aber man kann diskutable Andeutungen machen: Arbeit, Bewusstsein, Zielsetzung, Sprache etc. wären leere Mittel ohne den Zweck der Bedürfnisbefriedigung, des Genusses, der Lust, des Erotischen. Die Erkenntnis der Beziehung von Mittel und Zweck, von Anstrengung und Belohnung, von Askese des Mittels einerseits und Erotik des Zwecks andererseits liefert zugleich die Erkenntnis dafür, was der Mensch sein kann und sein soll: spielender Mensch. 

Aus der Anlage, aus der Möglichkeit wird eine Bestimmung abgeleitet: der Mensch soll ein spielender Mensch sein, weil er es sein kann und durch jede seiner Handlungen sein will. [14] „Spiel“ heißt bei Kofler wie bei Marx so viel wie freies Betätigen der menschlichen Kräfte.

So kindisch es klingen mag: des Spiels wegen gibt es überhaupt Klassenherrschaft und Klassenkampf. Die herrschenden Klassen und ihre korrumpierten Anhängsel existieren nur, weil sie durch Ausbeutung prinzipiell mehr Spiel, mehr Freiheit, mehr Genuss haben. Die ausgebeuteten Klassen lehnen sich dagegen nur deswegen auf, weil sie für sich selbst mehr Spiel, mehr Freiheit, mehr Genuss beanspruchen. 

Wird das Streben nach freiem Spiel und nach Erreichen immer höherer Stufen von Freiheit ausgeblendet, dann erscheint nicht nur jegliche Klassenherrschaft ohne Sinn, sondern auch jegliche Geschichte. Was ist historischer Fortschritt, wenn nicht das Erreichen immer höherer Stufen der Freiheit, des Spiels und der Selbstverwirklichung des Menschen? Mit Kofler lässt sich schließen:

„Die anthropologische Bestimmung des ‚eigentlichen Menschen‘ als eines mit dem Eros identischen steht nicht für sich, sondern wird maßgeblich für alle Wissenschaften, in denen sich ausdrücklich oder auf vermittelte Weise die Frage nach dem richtigen Handeln stellt.“ [15]

Fußnoten


[1] Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 23.

[2] Leo Kofler: „Die Bewusstseinsanthropologie im Materialismus von Karl Marx“, in: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S. 214.

[3] Auch andere Marxisten haben die Bedeutung der Anthropologie und des Menschenbildes für den Marxismus herausgestellt. Kofler steht keineswegs auf verlorenem Posten. Er ragt im Gegenteil als Systematiker und Vorläufer neuerer Ansätze heraus. Genannt seien z. B. E. Fromm, H. Lefebvre, A. Honneth, C. Jünke.

[4] Kofler selbst bezeichnet die Anthropologie u.a. als „Vortheorie“ des Marxismus. Vgl. Leo Kofler: „Die Bewusstseinsanthropologie im Materialismus von Karl Marx“, in: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S. 219.

[5] Ebenda, S. 214.

[6] Leo Kofler: Aggression und Gewissen. Grundlegung einer anthropologischen Erkenntnistheorie, München 1973, S. 18.

[7] Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 28.

[8] Übrigens ist auch die traditionelle Wissenschaft unbegründet, wenn ihr Ziel nicht menschliche Fortschritte sind.

[9] Im Allgemeinen macht er insgesamt acht dieser anthropologisch-formalen Bedingungen menschlicher Existenz aus: die menschliche Vernunft, die menschliche Tätigkeit, die Geschichtlichkeit des Menschen und seine Entäußerung, seine physische und seine psychische Organisation, seine Vergesellschaftung, sowie die Subjekt-Objekt-Dialektik.

[10] Leo Kofler: „Die Bewusstseinsanthropologie im Materialismus von Karl Marx“, in: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S. 219.

[11] Könnte man etwa Affen auch nur eine dieser Eigenarten nachweisen, dann müsste man diese konsequent zur menschlichen Gattung zählen. Da aber Kofler eine qualitative anthropologische Setzung vornimmt, die etwaige „Anfänge“ von Bewusstsein, Arbeit, Zielsetzung, Vergesellschaftung bei Tieren als bloß instinkthaft und in absehbarer Zeit als unveränderbar annimmt, würden wohl keinem Affen die Menschen- oder Bürgerrechte zustehen. Würde aber jemand mit dem Äußeren eines Affen nicht nur ein einteiliges Holz- oder Steinwerkzeug nutzen, sondern sich einen Vorrat davon zulegen oder gar Ackerbau und Viehzucht betreiben, Deutsch oder Chinesisch sprechen, Puschkin lesen oder ein Buch beliebigen Inhalts schreiben, dann müsste man ihn zweifellos zur menschlichen Gattung zählen.

[12] Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 25.

[13] Siehe z.B. Koflers hier zitierte anthropologische Schriften, die Homepage der Leo-Kofler-Gesellschaft (www.leo-kofler.de) oder für eine kurze Zusammenfassung der Anthropologie Koflers: Christoph Jünke: „Wann ist der Mensch ein Mensch? Leo Koflers anthropologische Utopie“, zuerst in: Sozialismus, Heft Nr. 306, Januar 2007 (http://www.linksnet.de/de/artikel/20294).

[14] „Der Mensch handelte nicht, wenn er nicht gleichzeitig nach glückhafter Befriedigung des Eros strebte.“, in: Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 34.

[15] Ebenda, S. 327. Kursivsetzung erfolgt durch mich.

Chinas eigentümlicher Kapitalismus - eine Buchrezension

Ein Buch mit bestechender Argumentation

Was auf den ersten Blick wie eine merkwürdige Mischung aus entfesseltem Raubtier-Kapitalismus und kommunistischer Parteidiktatur aussieht, ist in Wirklichkeit eine Form des „staatlich durchdrungenen Kapitalismus“. So charakterisiert Tobias ten Brink das gegenwärtige System Chinas, das sich seit der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 entwickelt habe.

Der Politologe untersuchte Chinas Wirtschaft am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und im Rahmen mehrerer Forschungsreisen. Hauptziel seiner Untersuchung war Analyse und historische Rekonstruktion der wesentlichen Triebkräfte der chinesischen Gesellschaft.

Das Ergebnis seiner Forschung klärt über verbreitete Missverständnisse auf und schließt Lücken in der bisherigen Chinaforschung. Das Buch gehört zweifellos zum Besten, was in den letzten Jahren über den Aufstieg Chinas erschienen ist. Die Argumentation des Autors besticht.

China als „staatsbürokratische Klassengesellschaft“

Demnach war China nie kommunistisch, obwohl es von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) regiert wird. Die KPCh kam zwar im Jahre 1949 mit Hilfe von unzähligen Millionen Bauernsoldaten an die Macht. Im Grunde entwickelte sich seither aber unter der nationalistisch gesinnten Entwicklungsdiktatur Mao Zedongs bis zu dessen Tod 1976 eine „staatsbürokratische Klassengesellschaft“. Das war keineswegs die „Demokratisierung der Macht“ oder die „Auflösung von Herrschaft“, die sich die Kommunisten anfangs erhofften.

Stattdessen blieb China weiterhin eine ungleiche Gesellschaft mit systematischer Unterdrückung und einer eigenartigen herrschenden Klasse in Mao-Anzügen. Es habe sich zunächst also einerseits ein staatlich durchdrungener „Proto-Kapitalismus“ herausgebildet, in dem typisch kapitalistische Zwänge und Triebkräfte wirkten. Andererseits war die maoistische politische Ökonomie bei weitem nicht so zentralisiert wie bis heute oft unterstellt wird. Vielmehr habe eine „Plan-Anarchie“ bestanden, in der zwischen bürokratischen Machtzentren ähnliche Konkurrenzverhältnisse um Ressourcen und immaterielle Vorteile bestanden wie in Marktwirtschaften.

Weiterhin räumt ten Brink mit der Vorstellung auf, China habe sich zu irgendeinem Zeitpunkt vom Rest der Welt isoliert entwickelt. Schon das chinesische Kaiserreich war in das globale Staaten- und Wirtschaftssystem integriert und konnte sich aus ihm nie mehr herauslösen. Selbst nach dem Bruch mit der Sowjetunion in den 50ern und in der Kulturrevolution war China nicht von den typischen Zwängen der kapitalistischen Umwelt abgekoppelt.

Eindrucksvoll weist ten Brink sodann nach, dass der Reform- und Öffnungsprozess, der nach Maos Tod 1976 von seinem Nachfolger Deng Xiaoping eingeleitet wurde, nicht allein aufgrund einer innerchinesischen Krise aufkam. Dengs Reformen waren vielmehr Teil der weltweiten Umstrukturierung des Kapitalismus im Gefolge der Weltwirtschaftskrise in den 70ern.

China als Resultat einer einmaligen historischen Konstellation

Anders als einseitige Ansichten über die Reform-Ära stellt ten Brink weitere wichtige Punkte heraus: Die Reformen waren kein völliger Bruch mit der maoistischen Planwirtschaft hin zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft, sondern bloß eine graduelle, wenn auch tiefgreifende Transformation.

Auch die Vorstellung, wonach die Liberalisierung der Wirtschaft mit einer Fortdauer der KP-Herrschaft unvereinbar sei, entkräftet er. Die KPCh sitzt noch immer trotz aller Stolpersteine auf dem eingeschlagenen Reformpfad fest im Sattel. Sie vermochte es sogar, die neue private Unternehmerschaft als Fraktion der herrschenden Klasse zu absorbieren und die Mittelschichten zufrieden zu stellen. Eine marktförmige Organisation der Wirtschaft lässt sich also durchaus zumindest über mehrere Jahrzehnte mit einer Einparteiendiktatur vereinbaren. Das gegenwärtige Regime sichert sich unter anderem durch “privat-öffentliche Beziehungsnetzwerke” hinter den Kulissen die Loyalität seiner Politkader ebenso wie die der Privatwirtschaft. Die Privatwirtschaft führt in China demnach keineswegs zu einer Demokratisierung.

Andererseits widerlegt ten Brink die in Presse und Populärwissenschaft häufige Verherrlichung des chinesischen Entwicklungsmodells. Er stellt heraus, dass der sagenhafte Erfolg Chinas mit einem jahrzehntelangen BIP-Wachstum von knapp 10% nicht die alleinige Leistung einer genialen Machtelite, sondern vor allem das Resultat einer einmaligen historischen Konstellation war. Die Überakkumulation von Kapital machte es für die westlichen Kapitalisten notwendig, Investitionen in Länder mit günstigen Akkumulationsbedingungen zu tätigen. „Mehr als in anderen Schwellenländern wie Indien, Brasilien, Mexiko oder Russland boten entwickelte Infrastrukturen und prosperierende ‚supply chain cities‘ politische Stabilität und die guten Erfahrungen der Überseechinesen Gründe dafür, in China zu investieren.“ China wurde seit den 1980ern mehr und mehr zur Goldgrube für westliche Investoren. Das förderte die Exportorientierung Chinas, sodass es mittlerweile den Exportweltmeister Deutschland überholt und die Welt mit Produkten „made in China“ überschwemmt hat.

Aber Chinas Exportismus erforderte zugleich eine arbeitsintensive und billige Produktion, was wiederum zu zentralen Widersprüchen der chinesischen Wirtschaft führen musste. Neben seiner globalen Perspektive, die den methodischen Nationalismus anderer Analyserahmen überwindet, ist gerade die Betrachtung der Widersprüche der politischen Ökonomie Chinas eine Hauptstärke ten Brinks.

Die Widersprüche der politischen Ökonomie Chinas

Er stellt überzeugend dar, wie die drei zentralen Akteure der politischen Ökonomie – Unternehmen, staatliche Agenten und Industriearbeiter – ihre Gesellschaft in sozialen Konflikten umformen. Vor allem der Einfluss der Arbeiter auf Staat und Wirtschaft wird bei anderen Autoren oft vernachlässigt. Ten Brink dagegen zeigt, wie die Arbeiter im Konflikt mit staatlichen und privaten Akteuren für ihre Rechte kämpften.

Zugleich weist er auf eine besondere Problematik der Arbeitsbeziehungen in China hin. Denn die staatliche Einheitsgewerkschaft repräsentiert die Interessen der Arbeiter weniger als die des Staates und der Unternehmer. So könne von einem „Tripartismus mit vier Parteien“ gesprochen werden, wobei staatlichen, unternehmerischen und gewerkschaftlichen Akteuren institutionalisierte Kanäle der Interessenartikulation zur Verfügung stehen, den Arbeitern dagegen kaum.

Dieser Mangel ist einer der Gründe, weshalb die Interessen der Arbeiter sich jährlich in über 200.000 eruptiven Massenprotesten niederschlagen müssen. Die teils gewalttätigen Arbeiterproteste verweisen auf “die Grenzen der Subordination” und der Integration in das gegenwärtige System. Denn das Wachstum der Volksrepublik lässt sich nur mit dem Niederdrücken der Arbeiterlöhne und der Unterdrückung der Arbeiterproteste aufrechterhalten. Die Arbeiter hingegen fordern immer drängender und erfolgreicher ihre Rechte ein. Auch weitergehende Forderungen nach Lohnsteigerungen und Demokratisierung werden lauter.

Eine Alternative für die demokratische Marktwirtschaft?

Chinas kapitalistische Entwicklung stellt die Welt vor neue Probleme. Nicht nur bricht sie mit gängigen Vorstellungen davon, was Kapitalismus sei, sondern sie droht auch die wohlfahrtsstaatlichen und demokratischen Formen des Kapitalismus selbst zu verdrängen. Das chinesische Modell erscheint sicherlich nicht wenigen Vertretern der Eliten im krisengeschüttelten Westen als Alternative für das eigene wohlfahrsstaatliche Modell des Kapitalismus. Das chinesische Modell ist das eines weitgehend krisenresistenten Kapitalismus, der den Eliten saftige Profite sichert, den Mittelschichten Stabilität und Aufstiegschancen verspricht und die Forderungen von unzufriedenen Arbeitern mit autoritären Mitteln eindämmen kann. Chinas Kapitalismus ist daher ein integraler Bestandteil der Weltgesellschaft, der uns alle betrifft.

Der obige, leicht veränderte Text ist hier zuerst erschienen:
http://diefreiheitsliebe.de/allgemein/chinas-eigentuemlicher-kapitalismus

Tobias ten Brink: Chinas Kapitalismus. Entstehung, Verlauf, Paradoxien, Frankfurt/New York: Campus 2013. http://www.campus.de/wissenschaft/soziologie/Chinas+Kapitalismus.101716.html