Dienstag, 19. November 2013

Einer, der durch Freiheitsliebe beeindruckte

Ganz zu Unrecht unbekannt


Dem 1995 verstorbenen Marxisten und humanistischen Aufklärer Leo Kofler ist ein Lesebuch gewidmet, das neidisch macht, dieser so integeren Persönlichkeit nie selbst begegnet zu sein.

Adorno, Horkheimer, Marcuse – das sind Namen westdeutscher Nachkriegslinker, die der linken Jugend noch zu Recht halbwegs geläufig sind. Fast ganz vergessen ist dagegen ganz zu Unrecht der Name Kofler.

Denn Leo Kofler (1907-1995) überragte solch bedeutende Intellektuelle nicht nur körperlich mindestens um einen Kopf, sondern auch intellektuell und politisch, und da mindestens um zwei Köpfe.


Ernst Bloch, der weltbekannte Philosoph des Prinzips Hoffnung, lobte an Kofler, er wende „das ganze detektorische Vermögen des Marxismus“ bei der Kritik des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts an. Der bedeutende Marxist Georg Lukacs, der zu Koflers Lehrern gehörte, lobte Kofler für seine Gegnerschaft Adorno gegenüber. Denn Adornos “Marxo-Nihilismus” habe den leidenschaftlichen Revolutionär Marx sozusagen zum toten Hund gemacht. 

Das Buch geht auf solche Freundschaften und Animositäten in zahlreichen Beiträgen ein. Die Beiträge kommen von Menschen, die Leo Kofler persönlich begegnet waren. In ihnen wird Koflers persönlicher und politischer Charakter sehr plastisch dargestellt: ein prinzipientreuer und eigensinniger Marxist und Humanist.

Eingeleitet wird das Lesebuch durch die Herausgeber Jakomeit, Jünke und Zolper, die in ihrem Vorwort erklären, wieso Kofler heute noch so wenig bekannt ist:
"Wer in Zeiten repressiver Toleranz überall aneckt, weder über eine institutionelle Hausmacht noch einen politisch-theoretischen Zusammenhang verfügt, über den wird auch nicht diskutiert."

Aber so war er eben: unbeugsam


Kofler war ein marxistischer Einzelgänger wie kein zweiter, der nicht nur durch seine intellektuelle (und physische) Größe, sondern auch seine moralische Unbeugsamkeit beeindruckte. Wolfgang Abendroth lobt Kofler in einem Beitrag dafür, dass er seine konsequent sozialistische Kritik immer freimütig äußerte, egal wen er vor sich hatte. Nachdem Koflers jüdische Familie den Nazis zum Opfer gefallen war und Kofler nach seiner Flucht aus Österreich einige Jahre im Schweizer Exil verbracht hatte, bereitete er den Stalinisten der DDR ab 1947 Kopfschmerzen.

Sein Marxismus war geprägt vom sozialdemokratisch regierten “Roten Wien” und dem undogmatischen Marxisten Max Adler. Kofler hoffte damals noch ganz naiv, dass die DDR eine humanistische Alternative bieten würde. Dort wurde er dann auch Professor. Schnell wurde er für seine inhaltlich und rhetorisch glänzenden Vorlesungen bekannt. Zugleich kritisierte er den Dogmatismus der SED-Bürokratie. Alfred Kosing, ein damaliger Genosse, schreibt:
"Jedenfalls brachte seine Kritik Kofler die schwerwiegende Beschuldigung des Trotzkismus ein, was in jener Zeit ein politisches Todesurteil war."
1950 floh Kofler deswegen nach Westdeutschland, wo er fortan die Ideologen der BRD ärgern sollte. Er fing damit grandios an, als der BRD-Nachrichtendienst Kofler um Hilfe bei der Bekämpfung der DDR und der Verherrlichung der BRD bat. Kofler antwortete ganz höflich:
"Meine Herren, vergessen Sie bitte nicht, ich bin Marxist!"
Kofler eckte dann auch bei diversen Dogmatikern und Bürokraten etwa in der SPD, den Gewerkschaften und an den Unis im Westen an. Auch deswegen konnte er in keiner dieser Organisationen richtig Fuß fassen. Vielmehr verbrachte er die meiste Zeit als eine Art sozialistischer Wanderprediger. 

Erst in den 70ern wurde er auf Drängen von Studierenden wieder Professor, diesmal aber in Bochum. Stets waren seine Vorlesungen extrem beliebt. Christoph Jünke, Vorsitzender der Leo Kofler-Gesellschaft e.V., schreibt in seinem Beitrag über Koflers Ausschluss aus den großen linken Institutionen im Westen:
"Als erneut heimatloser Linker schlägt sich Kofler im restaurativen Klima der Adenauer-Zeit mit Vortragsreisen zu Gewerkschaften, Volkshochschulen und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) durch. Die westdeutschen Hochschulen bleiben ihm dabei ebenso verschlossen wie die größeren gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Bildungseinrichtungen."

Der Babo persönlich

Koflers Stalinismuskritik


Nach seiner Flucht aus der DDR entwickelte Kofler seine systematische marxistische Stalinismuskritik. Er führte die Entstehung des Stalinismus nicht auf angeblich totalitäre Ansätze in der marxistischen Theorie oder Praxis zurück, sondern auf die katastrophale Lage der Sowjetunion in den 20er Jahren. 

Nach dem ersten Weltkrieg, Invasion und Bürgerkrieg waren Arbeiterklasse und Demokratie in Russland so weit geschwächt, das sich die bürokratische Fraktion der Arbeiterpartei unter Stalin in eine “heillos terroristische Diktatur” verwandelte. Kofler selbst schrieb:
"Aber gerade in Rußland, wo unter der Voraussetzung der mangelnden demokratischen Tradition und des Fehlens einer entwickelten Industrie sich die bürokratische Selbstherrlichkeit mit der Sucht, ohne Rücksicht auf die menschlichen Bedürfnisse zu akkumulieren, verband, konnte die typisch stalinistische Bürokratie entstehen."
Damit wurde das anfangs noch humanistisch motivierte sozialistische Projekt in Russland zerstört und durch eine inhumane bürokatische Praxis und schablonenhafte Denkweise ersetzt. Kofler erkannte dies aber erst, nachdem er selbst 1950 vor seiner Flucht Opfer dieses stalinistischen Denkens und Tuns wurde. Seither war er von der notwendigen Einheit von Sozialismus und Demokratie überzeugt. Kofler dazu wörtlich:
"Ohne die direkte Anteilnahme der demokratischen Kräfte des Volkes an der Regierung und ohne direkte demokratische Kontrolle durch das Volk muß jede Planwirtschaft bürokratisch entarten; bei Vorhandensein dieser Kräfte und einer solchen Kontrolle kann die Planwirtschaft nicht bürokratisch entarten"

Freiheit für die Einzelnen


Oskar Negt führt in seinem Beitrag über Kofler aus, wie wichtig es ist, Humanismus und Marxismus zu verbinden und wie fatal die stalinistisch-bürokratische Praxis und Theorie auch heute noch sind. Sozialismus geht zwar nicht ohne sich kollektiv zu organisieren, aber auch nicht ohne sich individuell selbst zu verwirklichen. 

Das war einer der zentralen Unterschiede zwischen Kofler und den linken Bürokraten, die zwar Sozialismus im Kopf gehabt haben mögen und sich dafür aufopferten, aber darüber ganz vergaßen, dass die neue Gesellschaft vor allem mehr Freiheit für die Einzelnen bringen sollte! Kofler verteidigte dagegen immer die Freiheit und Integrität der Persönlichkeit.
"Und es ging ihm darum, [...] diejenigen Tendenzen in der Gesellschaft zu unterstützen, die in Richtung Freiheit, Gerechtigkeit und Aufhebung der Klassenherrschaft weisen."
Die Freiheit des Menschen war das zentrale Thema Koflers. Unzählige Publikationen widmen sich dem Thema explizit. Ursula Wendler schreibt in ihrem Beitrag über ihre Begegnung mit Leo Kofler an der Volkshochschule in Marl:
"Besonders beeindruckt haben mich die Freiheitsliebe und sein Eintreten dafür, dass jegliche Form politischer Orientierung von Menschen die Freiheit der Menschen nicht ausschließen darf, und das bezog er auch auf den Kommunismus. Diese Erinnerung ist für mich untrennbar mit Kofler verbunden."

Koflers marxistisches Menschenbild 


Er entwickelte eine sehr weit reichende anthropologische Theorie, in der das Wesen und die Geschichte des Menschen unmittelbar mit seinem Drang nach Freiheit verbunden werden. Die menschliche Arbeits- und Bewusstseinsfähigkeit ermöglicht es dem Menschen, sich für Ziele zu entscheiden und die Ziele in die Realität umzusetzen.

Unter den gegebenen Umständen zielt er damit auf die Verbesserung seiner Umstände, auf Fortschritt, auf mehr Freiheit. Und so macht der Mensch sich seine Geschichte selbst. Geschichte wird damit verständlich als Fortschritt der menschlichen Gesellschaft. Silvia Lange dazu:
"Leo Kofler begründet die Notwendigkeit einer marxistischen Anthropologie zum einen damit, dass jede kritische Gesellschaftstheorie ein spezifisches Bild vom Menschen voraussetzt, zum anderen fehlt, wenn man den Menschen nur historisch betrachtet, jeder Maßstab zur Beurteilung historischen Fortschritts."
Bernard Willms merkt in seinem Artikel “Marxismus und anthropologische Selbstverwirklichung” zur zentralen Rolle der Koflerschen Theorie an:
"Mit dieser anthropologischen Wende wurde dem Marxismus eine ursprüngliche Würde zurückgegeben, indem der Mensch wieder in den Mittelpunkt gerückt wurde, eine Würde, die in Ökonomismus, Bürokratismus und Dogmatismus – und in sehr viel Blut – ertränkt worden war."

Koflers Geschichtsauffassung 


Koflers unbeirrbarer Optimismus, der so charakteristisch für ihn war, speiste sich aus der Erkenntnis, dass die Geschichte bislang trotz aller Rückschläge tatsächlich immer höhere Stufen der Freiheit erreicht hat. Das zu leugnen kann sich nur jemand leisten, der sich darum aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung nicht kümmern brauch oder sich total deprimiert mit dem gegenwärtigen Zustand abfindet.

Der Kapitalismus hat z.B. mittlerweile enormen Wohlstand für viele Menschen ermöglicht und wird häufig immerhin von einer demokratischen Hülle verziert. Menschenrechte und soziale Rechte wurden seit dem zweiten Weltkrieg enorm gestärkt. Diskriminierungen wurden oft abgeschwächt. Das sind enorme Fortschritte schon im Vergleich zu den modernen westlichen Gesellschaften vor ein paar Jahrzehnten, geschweige denn im Vergleich zur Antike oder zum Mittelalter.

Dialektik bei Kofler


Kofler wusste aber auch ganz genau, dass Geschichte nicht geradlinig verläuft, sondern durchaus widersprüchlich ist. Seine Gesellschaftskritik speiste sich aus seiner Aneignung der Dialektik von Hegel, Marx und Lukacs. Für Kofler war Dialektik nicht bloß sophistisches Gerede, sondern ein mächtiges Werkzeug der Sozialisten, um die Welt nicht nur zu richtig interpretieren, sondern um sie auch zu verändern. 

Dialektik verstand er u.a. als Methode zum Verständnis von Geschichte. Anders als die Ökonomisten des Ostblocks, die alle gesellschaftlichen Phänomene direkt aus der Wirtschaft ableiten wollten und das als “Dialektik” verkauften, war Dialektik für Kofler eine wesentlich vielseitigere und buntere Angelegenheit. Die vielen widersprüchlichen und gegenläufigen geschichtlichen Entwicklungstendenzen können mit Hilfe von Koflers Dialektikkonzept besser verstanden werden. 

Dass etwa die Sowjetunion zunächst als Fortschritt für die Menschheit angefangen hatte, dann aber in einen Rückschritt umschlug, war für viele Marxisten nicht begreifbar. Sie hielten dogmatisch an der moralischen Sauberkeit der Sowjetunion fest. Kofler dagegen brach mit seinen anfänglichen Illusionen über den Ostblock, um sich sein kritisches marxistisches Denken zu bewahren. 

Genauso konnte Kofler die Entwicklung der westlichen Sozialdemokratie, der Grünen oder des “Marxo-Nihilismus” von Adorno ergründen. Grüne heute haben oft die Vorstellung, sie seien noch immer fortschrittlich, obwohl sie das Gegenteil dessen tun, was die Partei noch in ihrer Anfangsphase wollte. Erst wurden Frieden, Gerechtigkeit, Sozialismus und Umweltschutz gefordert. Nun unterstützen sie Krieg in anderen Ländern, wobei sie die dortige Umwelt verpesten und zugleich Menschen bombardieren lassen, und bauen in Deutschland den Sozialstaat ab. 

Ähnlich ist es mit der SPD und vielen nicht mehr allzu linken Anhängern Adornos. Das dialektische Denken à la Kofler aber versteht solche historischen Umschwünge und kann sie teils sogar vorhersehen, weil es sich auf die Widersprüche dieser Schulen und Bewegungen fokussiert. 

Dieter Matten schreibt in seinem “Mein Kofler” betitelten Artikel über Koflers Position zu Habermas und die Grünen:
"Kofler [...] formulierte die Vorhersage, dass in 20 Jahren kein fortschrittlicher Denker sich mehr ernsthaft auf Habermas beziehen würde und dessen Theorem stattdessen als neue Herrschaftsideologie etabliert würde. Wir alle sehen heute, wie sehr er damit Recht behalten hat. Habermas hat längst Popper als Lieblingsphilosophen der Herrschenden abgelöst. Schließlich wurden die Grünen und Alternativen zu den Hoffnungsträgern [...] Auch hier war sehr schnell Koflers Position überdeutlich. Die Vertreter dieser neuen Partei aus APO-Zeiten kannte er meist aus früheren Begegnungen und prangerte ihre theoretischen Defizite an. Dass dies alles zu Recht geschah und wieder den Scharfsinn Koflers beweist, der aus den Kriterien seiner Theorie abzuleiten ist, wissen wir doch heute alle. Kofler sagte im Jahr 1983 [...] voraus, dass in kürzester Zeit die Grünen verbürgerlichen würden und am Ende ganz sicher Koalitionen mit der CDU und anderen reaktionären Parteien eingehen würden."
Weitere Beiträge im Buch thematisieren Koflers Theorie der progressiven Elite (humanistisch orientierte Aktivisten und Intellektuelle), seine eigenartige Literaturtheorie, seine großartige Ideologiekritik und diverse andere seiner Themen. Jedenfalls zeigt die inhaltliche Auseinandersetzung mit Kofler, dass er das war, wofür er von einem der bedeutendsten Marxisten des 20. Jahrhunderts, Ernest Mandel, in seinem Brief an Kofler gelobt wurde: ein selbständiger, revolutionärer Denker.

Der bürgerliche Bürgerschreck Leo Kofler


Norbert Hruby und andere beschreiben in dem Lesebuch auch Koflers persönliche Seite. Hruby schreibt, man hätte Kofler für einen “Bürger im Sonntagskleid” halten können, wenn man seine Schriften nicht zuvor schon kannte und beschreibt Koflers scheinbaren Widerspruch zwischen sozialistischer Selbstdarstellung und bürgerlicher Wohnweise.

Er ließ sich, scheinbar wie ein professoraler CDU-Wähler, nie von seinen Studierenden duzen, trug gerne seinen Anzug mit Krawatte, pflegte wohl auch bürgerliche Tischmanieren, heiratete eine Frau aus gutbürgerlichem Hause und bestand entschieden darauf, dass auch ein Linker die Pflicht habe, eine Ehe ohne Trennung durchzuhalten.

Man könnte denken: wie spießig! But look who is talking! Gerade die selben Menschen, die einem gestandenen Sozialisten wie Kofler Spießertum vorwerfen (oder vorwarfen) sind in Wirklichkeit nicht selten gleichzeitig unfassbar unpolitisch oder befürworten vielleicht sogar Sozialabbau, antimuslimischen Rassismus und “humanitäre” Kriege!

Die westdeutsche Gesellschaft, in der solche wirklich nationalistischen und bürgerlichen Ideologen auch mal grün und rot gefärbt sein können, bezeichnete Kofler allerdings schon früher als “Saustallgesellschaft”. Außerdem stammt von ihm der Satz: “Auch ein Faschist kann für die Umwelt sein!” Man sollte sich daher merken: Lieber ein wirklich alternativer Spießer als ein pseudoalternativer Neokon!

Kofler selbst beschreibt in dem Lesebuch sein Treffen mit Ernst Bloch bei einem – wieder bürgerlich scheinenden – Abend-Dinner. Ernst Bloch stellte den Anwesenden beim Dinner die Frage: “Wo ist der Kofler?”, worauf Kofler gewitzt stichelte: “Ich stehe, wie immer, links von Ihnen”.

Wer also einen Einstieg in Biographie, Theorie und Charakter eines wirklich selbständigen, revolutionären Denkers und marxistischen Humanisten finden will, dem sei das Lesebuch “Begegnungen mit Leo Kofler” wärmstens empfohlen.

Alle Anderen, die nach Alternativen suchen, mögen sich überlegen, ob sie diese noch unbedingt bei den GrünenPiraten oder der AfD finden wollen oder ob sie nicht lieber nach Texten Koflers auf der Homepage der Leo Kofler-Gesellschaft e.V., bei Amazon oder in der lokalen Bibliothek stöbern sollten.

Dieser Artikel ist eine veränderte Spiegelung des Artikels "Ein marxistischer Einzelgänger, der durch Größe und Freiheitsliebe beeindruckte" auf freiheitsliebe.de.