Montag, 25. November 2013

Die Araber und der Antizionismus, Teil 1

Eine jede Betrachtung des Nahostkonfliktes ist überschattet vom arabisch-israelischen Krieg der Geschichtsschreibungen. Gilbert Achcar, Professor für Entwicklungspolitik und Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies in London, hat dem Thema ein Buch gewidmet. Achcars Buch “Die Araber und der Holocaust” (2012 bei Edition Nautilus erschienen) ist ein wertvoller Beitrag, der dabei hilft, “die Logik des Krieges der Narrative zu beleuchten”, wie Achcar selbst hofft.

Achkars humanistische und wissenschaftliche Perspektive


Achcar schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches über seine Motivation:

So hoffe ich, dass die deutsche Ausgabe meines Werks dazu beitragen wird, Licht in die Finsternis zu bringen, die der Instrumentalisierung dieses Konflikts Vorschub leistet, und all jenen Argumente zu liefern, die allein von dem beseelt sind, was die deutsche Geschichte an Wertvollstem hervorgebracht hat – Humanismus und Internationalismus.

Achcar schreibt also ganz im Sinne der humanistischen Ideen solcher Denker wie Karl Marx. Einseitige Parteinahme für die eine oder andere Bevölkerung lehnt er ebenso ab wie die verschiedenen mehr oder weniger versteckten Formen von Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus oder religiösem Fanatismus. Einerseits kritisiert er all die Vertreter der Israelkritik und des Antizionismus, die nicht zugleich am Humanismus und Wohl aller Menschen orientiert sind.

Er kritisiert andererseits auch reaktionäre Vertreter der pro-israelischen Seite, des Zionismus, die das Wohl des israelischen Staates über das Wohl der Menschen im Nahen Osten stellen. An solchen Zionisten kritisiert er vor allem auch, dass sie sogar den Völkermord an den Juden wie auch üble Antisemitismus-Vorwürfe instrumentalisieren, nur um jede Politik des israelischen Staates heilig zu sprechen.

Immer wieder kommt Achcar auch auf die zionistisch motivierte Propaganda zu sprechen, die die arabische und antizionistische Seite völlig verzerrt und einseitig darstellt. Wissenschaftler wie Benny Morris oder Bernard Lewis, die es eigentlich besser wissen müssten, werden für Falschdarstellungen oder zynische Positionen zu Recht gebrandmarkt. Morris z.B. sieht nach seinem Rechtsruck hin zum antimuslimischen Rassismus in allen Moslems grundsätzlich Antisemiten. Achcar bedauert das:

Morris, ein Historiker, der immer darauf bestanden hat, dass für ihn nur “die Fakten” und wissenschaftliche Gründlichkeit auf der Basis hinreichender Belege zählen, hat sich also zu einem ideologischen Diskurs hinreißen lassen, der im beginnenden 21. Jahrhundert allzu üblich geworden ist: einer Mischung aus Neokonservatismus made in the USA und Neozionismus, beides unterfüttert mit Islamophobie.

Dagegen ist es Achcars erklärtes Ziel, dabei zu helfen, "einen Dialog zwischen Arabern und Israelis auf der Grundlage gemeinsamer humanistischer Werte" aufzubauen. Er tut das, indem er zu allererst Humanismus und Wissenschaftlichkeit verbindet. 

Dazu gehört die Fähigkeit, zu differenzieren. Anders als viele zionistische Wissenschaftler wie etwa Bernard Lewis, der alle Araber unter einen Kamm schert und zwischen ihren diversen Ansichten nur einen einzigen antisemitischen Sumpf sehen kann, beweist Achcar tatsächlich mit seinem Buch, wie wichtig ihm die “die Fakten” und wissenschaftliche Gründlichkeit auf der Basis hinreichender Belege sind. Sein Buch ist daher nicht bloß eine politische Abwehr gegen menschenfeindliche Politik im Nahen Osten, sondern auch ein solider wissenschaftlicher Beitrag zum Thema.

Im ersten Teil seines Buches unterscheidet er im Wesentlichen zwischen den vier großen politischen Strömungen im arabischen Raum: westlich orientierten Liberalen, Kommunisten, Nationalisten und reaktionären und/oder fundamentalistischen Panislamisten. 

Diese untersucht er im Detail auf ihre Einstellungen und Beziehungen zum nationalsozialistischen Völkermord an den Juden, zum Antisemitismus und zum Zionismus in der Zeit von 1933 bis 1947. Den zweiten Teil des Buches über diese Einstellungen ab der Nakba von 1948, also nach der Vertreibung von über 700.000 Palästinensern aus Palästina durch die zionistischen Siedler, ordnet er eher chronologisch. 

Er zeigt, wie der arabische Nationalismus im Stile des ägyptischen Nasserismus nach der Nakba zur dominanten Strömung wurde, dann aber vom Befreiungsnationalismus der PLO und schließlich vom Panislamismus ersetzt wurde. Dabei belegt er, wie sich die antizionistischen Einstellungen der Araber veränderten.

Arabische Reaktionen auf den Nationalsozialismus und den Antisemitismus (1933-1947)


Die arabischen Liberalen


Die westlich orientierten Liberalen unter den Arabern bis 1947 werden heutzutage gerne von neokonservativen Politikern des Westens ignoriert oder sogar kategorisch verleumdet. Rassistische Moslemhasser unterstellen den Arabern, als Moslems immer auch Feinde der Demokratie und Antisemiten zu sein. Gerade die arabischen Liberalen jener Zeit bewiesen aber eine weitaus menschenfreundlichere, tolerantere und demokratischere Haltung als angeblich aufgeklärte und liberale Politiker in Europa, indem sie deren inkonsequente Haltung und deren christlich geprägten Antisemitismus und Rassismus konsequent kritisierten. Achcar schreibt:


Die von einer demokratischen, humanistischen Kultur geprägten liberalen Westler unter den Unabhängigkeitsbefürwortern in der arabischen Welt lehnten den Nationalsozialismus von Anfang an ab. Das hinderte sie nicht daran, aus ihrer antikolonialistischen Gesinnung heraus gegen den Zionismus zu sein. Für die zionistische Bewegung stellten die westlich orientierten Liberalen ein großes Ärgernis dar, da sie am glaubwürdigsten unter Verweis auf die Werte der antifaschistischen westlichen Kultur die Grundlagen des Zionismus kritisieren konnten.

Liberale Demokraten konnten also sowohl Antifaschisten als auch Antizionisten sein, indem sie die rassistische, nationalistische und kolonialistische Natur sowohl des Faschismus wie auch des Zionismus sahen.

Die nahöstlichen Kommunisten


Die Kommunisten waren ebenso von vornherein erklärte Gegner des Antisemitismus und Nationalsozialismus:

Aus ideologischen Gründen lehnten die Marxisten in der arabischen Welt, darunter viele einheimische oder eingewanderte Juden, den Nationalsozialismus durchweg entschieden ab. [...] Die Marxisten waren es vor allem, die den Zionismus als rassistische Bewegung verurteilten, sie waren aber auch für die fragwürdige Gleichsetzung von Zionismus und Nationalsozialismus verantwortlich – deren wichtigste logische Konsequenz war, was oft vergessen wird, dass sie beiden Ideologien gleich ablehnend gegenüberstanden.

Trotz der dummen Gleichsetzung von Zionismus und Nationalsozialismus waren die arabischen (und jüdischen) Kommunisten grundsätzlich nicht Judenfeinde, sondern verteidigten sowohl Juden wie auch Araber vor Rassismus und Kolonialismus. Was man den Kommunisten dieser Zeit aber vorwerfen sollte, ist, dass sie keinerlei internationale Kampagne zur Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge aus Europa gestartet hatten und dass sie nach dem Völkermord an den Juden wiederum nicht mehr konsequent genug gegen den rassistischen Kolonialismus der Zionisten vorgingen, sondern Israels Staatsgründung unterstützten. Das brachte sie für längere Zeit in Verruf, sodass die Nationalisten als die konsequenten Vertreter der arabischen Unabhängigkeitskämpfe erscheinen konnten.

Die arabischen Nationalisten


Die arabischen Nationalisten hatten ein weit problematischeres Verhältnis zu NS, Holocaust und Juden. Hier gab es durchaus Antisemiten und Rassisten, die einen gewissen Einfluss hatten. Es gab unter den arabischen Nationalisten durchaus auch Sympathisanten und Nachahmer des europäischen Faschismus. Aber diese Minderheit innerhalb der Nationalisten war selten und kaum von religiös und rassistisch motiviertem Antisemitismus geprägt. 

Achcar sieht die Tendenzen zum Ultranationalismus und Faschismus eher als reaktionäre Antwort auf den Kolonialismus und die politischen Konkurrenten im arabischen Raum. Achcar geht im Detail auf die wirren Ansichten solcher Reaktionäre ein und kritisiert sie ausgiebig. Achcar differenziert hier aber:

Es gilt zu unterscheiden zwischen jenen, die vorübergehend und in Abwägung ihrer Interessen gehandelt, aber ihre Distanz zum Faschismus gewaht haben, und denen, die sich zu ihrer ideologischen Übereinstimmung mit Rom und/oder Berlin bekannten und es mit ihrer Bindung an die Achsenmächte ernst meinten.

Außerdem zeigt sich in Achcars Untersuchungen, dass die arabischen Nationalisten die Juden vor antisemitischen Pogromen eher geschützt haben als es die europäische Bevölkerung tat. Auch lehnte der Großteil der Nationalisten die Nachahmung, Stärkung und Bewunderung des europäischen Rassismus, Antisemitismus, Faschismus und Imperialismus ab. Er vermerkt weiterhin

dass der schlimmste Antisemitismus, den [der Irak] in den 1940er Jahren erlebte, nichtnationalistischen Regierungen zuzuschreiben ist, sondern auf das Konto jenes Mannes geht, den die Nationalisten und generell die Bevölkerung am meisten hassten: des englandfreundlichen Nuri al-Sa’id, der 1949 in seiner Amtszeit als Premierminister drohte, die irakischen Juden massenweise zu vertreiben.

Die rechten Panislamisten


Was die “reaktionären und/oder fundamentalistischen Panislamisten” angeht, so gab und gibt es wie bei den Nationalisten auch hier eine breite Palette an Einstellungen. Der düsterste Antisemitismus samt Verschwörungstheorien, Zuschreibung überzeitlicher Merkmale, mangelnder Differenzierung zwischen Juden und Zionisten und rigidester Ablehnung der westlichen Kultur konkurriert mit der traditionell islamischen Toleranz gegenüber friedlichen Juden und Christen. Solch Panislamismus kann beides beinhalten. Er war aber eine reaktionäre Antwort auf den Kolonialismus des Westens:

[Diesem Panislamismus] sollte die Rolle eines islamischen Bollwerks gegen den Westen zukommen. Dieser Panislamismus neigte stets zur fanatischen Ablehnung der kulturellen Moderne des Westens. Reaktionäre und fundamentalistische, gegen den Westen und westliche Einflüsse eingestellte Muslime griffen daher das Banner des Panislamismus auf und verbündeten sich mit den arabischen Nationalisten in einem Kampf gegen die gemeinsamen Feinde. Je rechter die Einstellungen dieser Nationalisten, desto stärker waren die Bande zwischen den beiden Strömungen [...] Sie trafen sich in einer Mischform von arabisch-islamischem Nationalismus.

Nicht der Islam per se, nicht einmal der islamische Fundamentalismus oder politische Islam per se, sondern nur bestimmte Strömungen und Einzelpersonen innerhalb dieser waren antisemitisch oder nazifreundlich. 

Der Mufti von Jerusalem, die widerlichste Gestalt in diesem Zusammenhang, pendelte zwischen Rom und Berlin, um seine engen Kontakte zu den italienischen und deutschen Faschisten zu pflegen. Er übernahm sogar weite Teile der Naziideologie und machte arabischsprachige Propaganda für den NS-Staat. Aber seine Nähe zum deutschen Rassenantisemitismus entwickelte sich erst spät, als er nach einem Scheitern in der arabischen Welt dort sein eh nicht besonders großes Ansehen fast völlig verloren hatte. 

Auch der Wandel Rashid Ridas, einer wichtigen Person im Zusammenhang mit dem Wahabismus bzw. Salafismus, vom relativ toleranten Verteidiger der Juden zum wilden Antisemiten zeigt, dass selbst die reaktionärsten islamischen Strömungen nicht notwendiger Weise antisemitisch sein müssen. 

Achcar besteht darauf, dass die konkrete Betrachtung der sozialen Gründe für Antisemitismus und andere Einstellungen entscheidend ist:
Diese unerlässliche Kontextualisierung der arabischen Einstellungen gegenüber den Juden und dem Holocaust macht den entscheidenden Unterschied aus zwischen einer berechtigten und begründeten Verurteilung dessen, was tatsächlich verurteilenswert ist – wohl wissend, dass die arabischen Einstellungen breit gefächert und oft untadelig, wenn nicht sogar vorbildlich waren -, und jener unterschiedslosen Dämonisierung, die nur in araberfeindlichen Rassismus und Islamophobie münden kann.

Alles Reaktionäre?


Aus Achcars Ausführungen wird deutlich, dass im Grunde alle wichtigen politischen Strömungen im arabischen Raum antizionistisch waren. Zugleich wird klar, dass sich Liberale und Kommunisten ziemlich konsequent gegen den Faschismus und Antisemitismus engagiert haben, während Nationalisten und Panislamisten von relativ linken und demokratischen Einstellungen, die sich denen der Liberalen und Kommunisten annäherten, bis hin zu extremem Antisemitismus und bis hin zur Nähe zum Faschismus alle Varianten kannten. 

Allen Arabern von damals oder auch nur der Mehrheit zu unterstellen, sie seien Islamisten, Judenfeinde, Reaktionäre, Faschisten oder dergleichen gewesen, ist wissenschaftlich nicht haltbar und eine Art des Eurozentrismus bzw. Rassismus. Die arabische Bevölkerung scheint bis 1947 trotz ihres Antizionismus insgesamt weit weniger rassistisch und antisemitisch gewesen zu sein als die europäische Bevölkerung insgesamt. 

Das darf nie vergessen werden, wenn den Arabern oder Moslems unterstellt wird, sie seien wegen ihrer Kultur von Grund auf Antisemiten oder Antidemokraten. Solche Pauschalisierung ist bloß ein Mittel der Kriegsvorbereitung und der Unterdrückung. Das sollten sich auch pseudolinke Neokonservative und Rassisten merken. Vielmehr muss selbst bei Reaktionären unter den Arabern und Moslems anhand ihres Lebenslaufs differenziert werden, wenn man ihre Einstellungen zu den Juden wirklich ernsthaft betrachten will. 

Auch muss zwischen Juden, Zionisten, Israelis und den entsprechenden Einstellungen unterschieden werden. Gerade aber viele Zionisten in Israel und z.B. auch die pseudolinken Zionisten und Kriegstreiber in Deutschland unterscheiden selten ausreichend. Für sie sind israelische Juden und israelische Zionisten ebenso das selbe wie Araber, Moslems, fanatische arabische Nationalisten und fanatische antisemitische Panislamisten. 

Achcar zeigt, dass gewissenhafte politische Kritik nur mit gewissenhafter Differenzierung funktioniert.