Freitag, 30. Mai 2014

Widerspruch in Xinjiang/Ostturkestan

Xinjiang ist für die globale Geopolitik von großer Bedeutung. Allerdings genießt das Autonome Gebiet im Westen Chinas nicht die entsprechende Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit erregen allenfalls separatistische Bestrebungen und entsprechende Gewaltakte zwischen Protagonisten "Ostturkestans" und Hütern der volksrepublikanischen Einheit. Doch was steckt hinter den gewaltsamen Auseinandersetzungen und ideologischen Zwistigkeiten um Xinjiang?

Xinjiang und China, Quelle: http://edition.cnn.com/

Spannungen aller Art in Xinjiang


Die mehrheitlich muslimischen Uiguren, die zu den Turkvölkern zählen, stehen in Xinjiang seit Jahrzehnten im Konflikt mit der volksrepublikanischen Staatsraison. Ausdruck dieses Konflikts sind ethnische, religiöse, ökonomische, kulturelle, und (geo-)politische Spannungen: ethnische Spannungen zwischen der Minderheit der Uiguren und der in China dominierenden Ethnie der Han-Chinesen; religiöse Spannungen zwischen Moslems und konfuzianisch-daoistischen Atheisten; kulturelle Spannungen zwischen einem Turkvolk, das sich als Teil der muslimischen Glaubensgemeinschaft in der Tradition des Osmanischen Reiches und des Pan-Turanismus begreift, und den großchinesischen Nationalisten und Han-Chauvinisten; ökonomische Spannungen zwischen dem nordwestlichen Hinterland und den wohlhabenden Küstengebieten Chinas; und schließlich (geo-)politische Spannungen im zentralasiatischen und ostasiatischen Raum. Die inneren und äußeren Spannungen des Autonomen Gebiets Xinjiang sind also durchaus bemerkenswert.


Spannungen zwischen Bevölkerung und Staatsmacht,
Quelle: http://www.uyghurcongress.org/

Ethnische Spannungen


In Xinjiang leben 21 Millionen Menschen, die in mehrere ethnische Gruppen einteilbar sind, wobei Uiguren und Han-Chinesen die größten Ethnien sind. Die Uiguren bilden mit knapp 50% noch immer die größte Ethnie in Xinjiang. Die Han machten vor 1949 weniger als 7% der Bevölkerung Xinjiangs aus, heute dagegen sind es bereits 40%. Die Han leben vermehrt im Gebiet der Hauptstadt Ürümqi, wo über 70% der Bewohner zu den Han gehören und nur knapp 12% zu den Uiguren. Im weniger industrialisierten Süden, bei Kashgar, machen die Uiguren hingegen über 90% und die Han nur ca. 7% aus.

Schon allein durch die vermehrte Bewohnung der industrialisierten Gebiete im Norden durch die Han sind deren Einkommen im Schnitt höher als die der Uiguren, die den wenig entwickelten Süden dominieren. Abgesehen von dieser rein statistischen Ungleichheit werden die Han aber auch gezielt gefördert. Nach 1949 wurden immer mehr Han nach Xinjiang umgesiedelt. Ein Großteil waren Soldaten der sogenannten Volksbefreiungsarmee. Jedenfalls stieg der Anteil der Han immer weiter an. Und natürlich erhielten viele von ihnen hohe Posten und Privilegien, was die uigurischen Einwohner notwendigerweise stören musste. Zwar ist es nicht so, dass die Uiguren von den Han allgemein rassistisch unterdrückt und gezielt attackiert würden, wie etwa die Palästinenser und arabischen Israelis durch die Zionisten Israels oder wie die Schwarzen durch die Buren in der südafrikanischen Apartheid. Aber es gibt durchaus ethnische Spannungen zwischen Han und Uiguren, die in Zusammenhang stehen mit Separatismus auf Seiten der Uiguren, Han-Chauvinismus auf Seiten der Han - und nationalistischem Terror auf beiden Seiten.

Der Weltkongress der Uiguren mit Sitz in München veranschaulicht, welche Ideen die uigurischen Separatisten vertreten. Auf der Internet-Präsenz des Weltkongresses findet sich folgende Selbstdarstellung:

Der World Uyghur Congress (WUC) ist eine internationale Organisation, welche die gemeinsamen Interessen der Uiguren sowohl in Ostturkestan (auch bekannt als The Xinjiang Uyghur Autonomous Region, VR China) als auch im Rest der Welt vertritt. Der WUC wurde am 16. April 2004 in München gegründet, nachdem der East Turkestan National Congress und der World Uyghur Youth Congress zu einer gemeinschaftlichen Organisation fusionierten.
[...]

Bevor Frau Rebiya Kadeer als Präsidentin des WUC gewählt wurde, hatte sie die Stiftung für Menschenrechte und Demokratie der Uiguren (Uyghur Human Rights and Democracy Foundation) gegründet und leitete die in Washington, DC ansässige Organisation Uigur-amerikanische Vereinigung (Uyghur American Association). Sie war die Rafto Preisträgerin und Kandidatin zur Nominierung des Friedensnobelpreises der Jahre 2005-2006-2007-2008-2009-2010 sowie 2011. Sie hatte 5 Jahre ihres Lebens in grausamer chinesischer Gefangenschaft verbracht. Nach ihrer Entlassung kämpfte sie für die Erlangung von Menschenrechten, von Freiheit und Demokratie für die Uiguren. Für ihre außergewöhnliche Arbeit wird sie als die Führerin und geistige Mutter der Uiguren anerkannt.

In der ersten Generalversammlung des WUC im Jahr 2004 wurde Herr Erkin Alptekin zum Präsident gewählt. Er hatte die Organisation bis zur zweiten Generalversammlung im Jahr 2006 geleitet. Herr Erkin Alptekin ist ein  bekannter Vertreter der Uiguren. Er hat sich seit Jahren um eine friedliche Lösung für die Ostturkestan-Frage bemüht. Er ist ehemaliger Generalsekretär der Organisation der nicht-repräsentierten Nationen und Völker („Unrepresented Nations and Peoples Organization-UNPO“) mit Sitz in Den Haag, Niederlande. Er besitzt beachtliche Erfahrung in der Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Regierungen, wenn es darum geht, sich für das Selbstbestimmungsrecht der Uiguren einzusetzen. Darüber hinaus ist er ein enger Freund des Dalai Lama, des geistigen Führers des tibetanischen Volkes.

Der Weltkongress der Uiguren beansprucht also, die Interessenvertretung für alle Uiguren der Welt zu sein. Außerdem teilen Exil-Uiguren das Schicksal der separatistischen Exil-Tibeter. Sie müssen außerhalb Chinas für ihre Sache kämpfen. Die Frage ist, ob die beiden Gruppen tatsächlich die Interessen aller Tibeter oder aller Uiguren vertreten oder ob sie nicht vor allem eine eigene Agenda haben. Nachweislich wurden separatistische und Dissidenten-Gruppen Chinas von den USA unterstützt. Wieso sollte es nicht auch auf uigurische Separatisten zutreffen? Jedenfalls zählt der Weltkongress der Uiguren eine ganze Reihe von Vergehen des volksrepublikanischen Staates gegen die Uiguren auf:

  • Scheinautonomie
  • Geburtenkontrolle
  • willkürliche Festnahmen, Folter, Hinrichtungen, Mord
  • Behinderung der Religionsfreiheit
  • "Sinosierung von Ostturkestan"
  • wirtschaftliche Benachteiligungen
  • Schäden durch Atomwaffentests und Gesundheitsversorgung
  • Pressefreiheit
  • spezifische Ausbeutung von Frauen
  • "Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft"
  • das "Ürümqi-Massaker"

Über die "Scheinautonomie" des Gebiets schreibt der Kongress:

Obwohl Ostturkestan als „Xinjiang Uyghur Autonome Region“ bezeichnet wird, gibt es keine Selbstbestimmung oder Selbstverwaltung für die Uiguren. Mehr als 90% aller wichtigen politischen, administrativen und wirtschaftlichen Positionen in Ostturkestan werden durch chinesische Angestellte besetzt.

Zum Beispiel, das Regionale Ständige Komitee der Kommunistischen Partei, das oberste politische Organ der Region, hat 15 Mitglieder. Wovon nur 3 Postionen von Uiguren aber 10 Positionen von Chinesen besetzt werden. In allen anderen politischen Entscheidungspositionen besteht die gleiche Überrepresentierung durch Chinesen. Einige anscheinend wichtige Positionen wurden an Uiguren vergeben, allerdings wird ihre Autorität ständig untergraben.

Das chinesische Vorgehen „Teile und Herrsche“ hat dazu geführt, dass die einheimische Bevölkerung von Ostturkestan Uiguren, Kasachen, Usbekin, Mongolen und Tataren in unterschiedliche „Provinzen“, „Landkreise“ und „Städte“ geteilt worden. [sic!]

Die Überrepräsentanz von Han-Chinesen in führenden Positionen ist gewiss ein Problem und Ausdruck des Misstrauens gegenüber Uiguren. Unabhängig davon, ob das bewusst und gezielt gefördert wurde oder ob es sich "spontan" ergeben hat, sollte klar sein, dass die chinesischen Befürchtungen nicht unbegründet sind. Eine Autonomie des Gebiets kann mit friedlichen Mitteln nur unter der chinesischen Oberhoheit erreicht werden. Faktisch ist solch eine Autonomie daher äußerst beschränkt, auf die Felder der Sprache, Religion und Kultur etwa. Der chinesische Staatskapitalimus kann aber niemals zulassen, dass ein "Ostturkestan" sich von China politisch oder ökonomisch löst. Regionale Autonomie ist im Staatskapitalismus erst dann wirklich denkbar, sofern sie ihm geopolitische Vorteile versprechen kann.

Genau diese Beschränkung der Autonomie unter chinesischer Oberhoheit ist der allgemeine Grund für die ethnischen Spannungen zwischen Han und Uiguren. Denn durch die chinesische Hegemonie vermischen sich ethnische, sozioökonomische und geopolitische Konflikte. Dadurch werden sogar religiöse Spannungen weiter politisiert und ethnisiert.



Religiöse Spannungen


Während die Uiguren zu den Turkvölkern zählen und wie weitere Minderheiten in Xinjiang mehrheitlich Moslems sind, sind die Han zumindest zum größten Teil nicht Moslems. Ob sie als Atheisten, Kommunisten, Kapitalisten, Daoisten, Konfuzianer oder Buddhisten gezählt werden können, ist vielleicht mehr eine Glaubensfrage des jeweiligen Autoren denn eine klar definierbare Angelegenheit. In China kann das alles zugleich auf ein einziges Individuum zutreffen, wie es scheint. Entscheidend ist weniger der Aufprall zweier oder mehrerer Religionen, was oft weniger problematisch ist als viele Kreuzfahrer und geistige Brandstifter glauben - entscheidend ist der Aufprall sozialer Interessen, die einander widersprechen.

Da die Uiguren zumeist an Allah glauben und sich als Teil der muslimischen Glaubensgemeinschaft verstehen, haben sie ein völlig anderes Selbstverständnis als die meisten Han-Chinesen. Ihre höchsten Autoritäten sind der Koran und muslimische Prediger, nicht aber die KP Chinas oder die chinesische Staatsführung. Für gewöhnlich ist das kein Problem, da sich die Uiguren wie alle anderen nicht-korrupten Bürger des Landes mehr oder weniger an die Gesetze halten. Allerdings wird der latente Konflikt zwischen den beiden Autoritäten, dem Koran und chinesischem Pass, ab und an akut. Und in gewissen Bereichen mischt sich die religiöse Frage mit anderen Fragen, was zum andauernden Konflikt geführt hat.

Wie in Tibet mischt sich auch in Xinjiang die Frage der legitimen und souveränen Staatsmacht mit der religiösen Frage. In Tibet repräsentierte der Dalai Lama vor seiner Flucht aus Tibet nicht nur das religiöse Oberhaupt der Gelbmützensekte Tibets, sondern auch das faktisch dominierende weltliche Oberhaupt Tibets. Adel und Klerus des feudalen Tibets bis 1949 waren weltliche und religiöse Autoritäten zugleich und wurden in den 1950er Jahren entmachtet, was viele zuvor wirklich unterdrückte Tibeter begrüßten. Dazwischen liegt eine Periode, in der tibetische Separatisten der chinesischen Staatsmacht mit Hilfe westlicher Staaten bewaffnete Widerstandsgruppen und Terror entgegenwarfen und in der die Maoisten große Teile der tibetischen Kulturgüter in der "Kulturrevolution" vernichteten. Diese antireligiöse Kampagne weckte in vielen Tibetern die Abscheu vor der han-chinesischen Staatsraison. Der Dalai Lama repräsentiert heute eine separatistische, theokratische und nationalistische Clique im Exil, die zwar viel Aufmerksamkeit genießt, aber aufgrund ihrer religiösen Abgehobenheit und politischen Ohnmacht wenig Bedeutendes zur Beantwortung der tibetischen Frage beitragen kann.

In Xinjiang ist der Fall etwas anders, aber in Vielem ähnelt er der tibetischen Frage. Wie Tibet wurde Xinjiang der chinesischen Erzählung zufolge "befreit" und "entwickelt". "Entwicklung des Westens" nennt die Staatsführung dieses Projekt. Auch in Xinjiang mussten alte Machthaber fliehen und es bildeten sich ebenfalls separatistische, nationalistische und terroristische Exilgruppen, die eine Abspaltung Xinjiangs und die Gründung eines "Ostturkestan" fordern. Der chinesische Staat kann eine solche Abspaltung aber unmöglich zulassen und wird mit aller Gewalt eine derartige Perspektive verhindern. Das Gebiet ist bereits "autonom" und wird formhalber auch so behandelt. Es hat einen gewissen Sonderstatus im Vergleich zu anderen, nicht-"autonomen" Provinzen Chinas.

Allerdings wird in der Tat religiöse Praxis, die sich mit Separatismus, Panturanismus und Terrorismus mischt, unterdrückt. Dergleichen würde auch in beliebigen anderen Staaten passieren. Wenn sich Separatisten auf Religion und religiöse Unterdrückung durch die Chinesen berufen, so vertreten sie damit gewiss nicht alle Uiguren, sondern allenfalls eine bestimmte Gruppe unter den religiösen Separatisten. Die gewöhnliche religiöse Praxis der Moslems wird dagegen nicht großartig unterdrückt und es gibt eine sehr hohe Anzahl an Moscheen pro Kopf. Allenfalls wird die religiöse Gebetspraxis und Ähnliches durch Lohnarbeit behindert, aber das ist weniger die Verantwortung der Han-Chinesen als die der Kapitalisten im Allgemeinen. Das Kapital macht auch vor religiösen und kulturnationalistischen Gefühlen keinen Halt.

Mosche in Ürümqi, Quelle: http://news.bbc.co.uk/


Kulturelle Spannungen


Der uigurische Weltkongress kritisiert eine "Sinosierung von Ostturkestan" [sic!]:

Die chinesische Regierung ergriff scharfe Maßnahmen, um die uigurische Sprache zu unterdrücken und den Anteil der chinesischen Sprache in Ostturkestan zu erhöhen. Vor der chinesischen Besetzung von Ostturkestan enthielt die uigurische Sprache und Literatur keine chinesischen Lehnwörter. Heute ist eine große Zahl von chinesischen Wörtern in den uigurischen Wortschatz eingedrungen. Mehrere tausend uigurische Begriffe wurden aus dem Wortschatz gestrichen, weil sie angeblich „die nationale Einheit“ behindern oder nicht in die „sozialistische Gesellschaft“ passen.

Uigurische Schulen wurden entweder geschlossen oder mit chinesischen Schulen zusammengelegt. Chinesisch wurde als Unterrichtssprache eingeführt. Uigurische Kinder werden in inner-chinesische Städte verschickt, damit sie dort Chinesisch lernen. Im ganzen Land wurden tausende von uigurischen Büchern verbrannt.

Diese Kritik erinnert an die Kritik durch den Dalai Lama, der von einem "kulturellen Völkermord" an Tibet sprach. In beiden Fällen wird keine stichhaltige Argumentation gebracht. In beiden Fällen wird äußerst nationalistisch und provinziell argumentiert. Von einem Völkermord an der Kultur kann keinerlei Rede sein. Ebensowenig von einer angeblichen Ausrottung der uigurischen oder tibetischen Sprache. Was die Bücherverbrennungen angeht, so wird offenbar die Kulturrevolution in den 70er Jahren herangezogen, die aber in ganz China zu Vernichtung von Kulturgütern geführt hatte und lange vorbei ist.

Was das Versenden von Kindern angeht, so ist die Kritik noch viel weniger stichhaltig und äußerst rückschrittlich. Würde man den Umkehrschluss ziehen, so wäre das von den Exil-Uiguren offenbar geforderte Nicht-Unterrichten der uigurischen Kinder auch in chinesischer Sprache eine chauvinistische Diskriminierung und Chancenminderung für die Kinder. Will man mehr Chancen und Gleichberechtigung von Han und Uiguren oder will man den uigurschen Kindern weniger Chancen ermöglichen durch mangelnden Chinesischunterricht? Nur ein ausgemachter Bauer kann fordern, Kindern in China kein Chinesisch beizubringen...

Die Schulen in Xinjiang bringen allgemein Chinesisch und Uigurisch bei, damit die Kinder beide Sprachen sprechen können und Straßennamen etc. sind im Wesentlichen auf Uigurisch und Chinesisch beschrieben. Die muslimische Religion wird ebenso wenig unterdrückt wie die buddhistische oder christliche, solange sie sich nicht mit politischen Autoritäten gegen den chinesischen Staat verbinden. Das ist in Deutschland mit den Salafisten aber auch nicht anders.

Die Sinisierung Xinjiangs ist dennoch eine Tatsache. Aber das geschieht nicht durch Unterdrückung, Ausrottung oder Verbot der uigurisch-muslimischen Kultur, sondern durch den ansteigenden Anteil an Han-Chinesen und die wachsende Bedeutung der chinesischen Wirtschaft in Xinjiang.

Straße in Ürümqi, auf Chinesisch, Uigurisch und in Pinyin-Umschrift, Quelle: wikipedia.


Ökonomische Spannungen


Ökonomische Spannungen sind ein wichtiges Problem in Xinjiangs Staatskapitalismus. Die Modernisierung, Entwicklung und Indsutrialisierung Xinjiangs durch den chinesischen Staat brachte Vor- und Nachteile mit sich. Früher war Xinjiang wie Tibet noch ein weltfremdes und surreales Randgebiet. Es ist zwar immer noch eine der rückständigsten Provinzgebiete in China, aber hat durchaus eine rasante Entwicklung durchgemacht. Xinjiang ist nun modern, kapitalistisch und von einem wohlhabenden Bürgertum regiert. Die Mittelklassen in Xinjiang leben viel besser als vor Jahrzehnten. Sogar der Lebensstandard der unteren Klassen allgemein hat sich merklich gebessert. Insofern geht es allen Schichten in Xinjiang besser als zuvor.

Allerdings kamen mit Chinas kapitalistischer Wirtschaft auch neue Disparitäten und Widersprüche hinzu. Die Ungleichheit in Xinjiang ist enorm. Die Ärmsten sind Arbeitslose, Hirten oder Deklassierte, die kaum Aufstiegsmöglichkeiten haben und auch kaum wohlfahrtsstaatliche Leistungen genießen und sich mit der Armut in Ländern der dritten Welt messen könnten. Die Reichsten können sich mit der Luxus-Bourgeoisie der entwickelten Länder messen.

Die Klassenkonflikte zwischen den verschiedenen Klassen sind wie überall auf der Welt ein Ausdruck der Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten im Kapitalismus. Die lange schon bestehende Ungleichheit zwischen dem wohlhabenden Osten und dem unterentwickelten Westen Chinas hat sich sogar noch verschärft. Außerdem kommt es seit vielen Jahren zu einem "brain drain" der am besten ausgebildeten Bewohner Xinjiangs gen Osten. Die Uiguren spüren diese Ungleichheiten am schärfsten, vor allem die wenig gebildeten, die aus ländlichen Gebieten stammenden und die weiblichen. Der uigurische Weltkongress schreibt dazu:

Die ständig wachsende chinesische Bevölkerung in Ostturkestan hat zu einer weitverbreiteten Arbeitslosigkeit unter den Uiguren geführt. Chinesen haben weitgehend die Kontrolle über politische und wirtschaftliche Einrichtungen übernommen. Daher ist die Arbeitslosigkeit unter Chinesen sehr gering, während sie bei den Uiguren alarmierende Ausmaße angenommen hat. Obwohl Ostturkestan über große Mengen an Bodenschätzen verfügt, leben nahezu 80% der Uiguren vom Existenzminimum und sogar unter der Armutsgrenze.

Nach einem Bericht der Xinjiang Provinz Regierung vom Oktober 2004 beträgt das Prokopfeinkommen der chinesischen Siedler in Ostturkestan das 4 Fache von dem Einkommen der Uiguren. Nahezu 85% der Uiguren sind Bauern. Derselbe offizielle Bericht bestätigt, dass das Durchschnittseinkommen eines uigurischen Bauern 820 Yuan (ca. 82 Euro) beträgt, während ein chinesischer Bauer in Ostturkestan ein Jahreseinkommen von 3.000 Yuan (ca. 300 Euro) erreicht.

Die größte Zahl der Aufträge wird an Chinesen vergeben. Die großen Bodenschätze von Ostturkestan einschließlich Öl, Gas, Uran, Gold und Silber werden von China ausgebeutet. Die chinesische Zentralregierung übt eine strenge Kontrolle über den Abbau der Bodenschätze aus. Uiguren haben keine Kontrolle über die Bodenschätze. Sie haben keinen Zugang zu Informationen über den Gewinn der aus den Bodenschätzen erzielt wird. Sie haben keine Möglichkeit an dem Ertrag aus ihren eigenen Bodenschätzen teilzuhaben.

Die Kritik des Weltkongresses ist teils sehr berechtigt, teils aber auch weltfremd und zutiefst rückschrittlich. Weltfremd ist diese Kritik, weil sie die Kräfteverhältnisse und Interessen nicht angemessen begreift und artikuliert, indem es die diversen Spaltungen und verschiedensten Interessen auf einen umfassenden Konflikt der Uiguren mit den Han reduziert. Das entspricht keinesfalls der Realität. Die realen Verhältnisse ähneln eher einem vielschichtigen Flickenteppich verschiedenster sozialer Interessen, die sich gegenseitig widersprechen und verschiedene Tendenzen repräsentieren. Klassen und Klassenfraktionen, Milieus und Verbände haben widersprüchliche Ansichten und Ziele. Die Reduktion dieser Widersprüche auf einen abstrakten Widerspruch zwischen zwei Ethnien ist im Kern unterkomplex und reaktionär, und teilweise sogar rassistisch.

Die volksrepublikanische Klassengesellschaft produziert und reproduziert immer wieder nicht nur ökonomische Spaltungen und Klassenkämpfe. Die Klassenkämpfe werden auch in Form sexistischer, nationalistischer und rassistischer Spaltungen ausgetragen oder von ihnen überdeckt. Sexismus, Chauvinismus und Rassismus dienen allgemein den Interessen der herrschenden Klassen, da sie die Mehrheit der Bevölkerung spalten, künstlich neue Interessen schaffen und Solidarität verhindern. Im Gegenteil dienen diese Herrschaftsmittel also der Unterdrückung der schon unterdrückten Klassen und Klassenfraktionen.

Ein uigurischer Nationalismus muss nicht notwendiger Weise den Herrschenden dienen. Ein Nationalismus kann der Befreiungsnationalismus oder auch der Chauvinismus einer bestimmten Gruppe sein. Der tibetische und der uigurische Nationalismus ist zum großen Teil mehr Chauvinismus als Befreiungsnationalismus. Trotz aller Betonung von Freiheit und Menschenrechten bei Exilanten und Separatisten werden damit weniger emanzipatorische Ziele gestärkt als der Eindruck erwecken könnte. Denn eine "Autonomie" Xinjiangs ohne soziale Revolution kann nur zur vertieften Unterwerfung des Gebietes durch imperialistische und großkapitalistische Kräfte führen und antichinesischen Nationalisten und Rassisten in die Hände spielen. Eine wünschenswerte Entwicklung Xinjiangs kann nur gestützt auf kapitalismuskritische Bewegungen der unteren Klassen erfolgen. Nur eine radikaldemokratische Republik als Produkt sozialer Kämpfe kann das Versprechen von Freiheit und Emanzipation der Uiguren auch wirklich umsetzen. Dafür ist aber kein antichinesisches Ressentiment notwendig, sondern Sozialismus und Solidarität und der Bruch mit dem autoritären Kapitalismus.

Der chinesische Staatskapitalismus kann es in seiner großen Abhängigkeit von Bodenschätzen und weiteren Produktivkräften natürlich nicht dem Zufall überlassen, wie die Ressourcen seines Territoriums genutzt werden. Es ist nur natürlich, dass der chinesische Staat den Uiguren die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung nicht einfach überlässt. Denn eine eigenständige Entwicklung der uigurischen Wirtschaft im Widerspruch zur Gesamtentwicklung Chinas könnte Instabilität und Abhängigkeit des Staates bedeuten. Und der chinesische Staat wird bereits durch viele Unzulänglichkeiten existenziell bedroht, sodass er unnötige Risiken mit allen Mitteln vermeiden will, vor allem geopolitisch brisante Risiken.

Nächtliches Stadtbild in Ürümqi, Quelle: http://images.chinahighlights.com/


Geopolitische Spannungen


Es ist ausgeschlossen, dass die Volksrepublik China unter kapitalistischen Bedingungen ihrem Autonomen Gebiet Xinjiang nationalstaatliche Unabhängigkeit gewährt. Die chinesischen Spitzenpolitiker werden, wenn sie den amerikanischen und europäischen Geopolitikern überlegen bleiben wollen, dergleichen nie und nimmer friedlich zulassen. Dafür ist Xinjiang für die klassenbewussten Kapitalisten der Welt geopolitisch zu bedeutsam.

Ein solches Staatsgebilde würde im selben Maß, in dem es von China unabhängig würde, von anderen Staaten in neue Abhängigkeiten geraten. Gerade die Geopolitiker der USA, die China als großen Rivalen betrachten müssen und rechte Kräfte wie auch Separatisten in China oft unterstützten, sind zu bedenken. Sie würden selbstverständlich sofort ihre Einflüsse geltend machen und "Ostturkestan" de facto zu einer Provinz der Westmächte umbauen... Das selbe gilt für ein "unabhängiges" Tibet. China kann dergleichen unter kapitalistischen Zuständen nicht zulassen.

Eine derartig dilettantische Politik, eine ungewollte Politik der Selbstzerstörung, können europäische oder amerikanische Politiker betreiben, nicht aber chinesische, die kulturell bedingt Großmeister des Subtilen und Anausgesprochenen sind. Zugleich sind der chinesischen Geopolitik um Xinjiang enge Grenzen gesetzt. Die Innenpolitik kann allenfalls die inneren Spannungen in Xinjiang durch kluge sozialpolitische und kulturpolitische Maßnahmen dämpfen. Außerdem kommen zu den weichen Methoden noch polizeistaatliche Maßnahmen in Betracht.

Tatsächlich wurden seit dem 11. September 2001, nach dem Massaker von 2009 und den Anschlägen von April und Mai 2014 die polizeistaatlichen Repressalien ausgeweitet. Polizisten werden vermehrt und gezielt für den Gegen-Terror ausgebildet. Racial Screening, d.h. gezielte Repressalien gegen uigurisch aussehende Menschen auf den Straßen, ist nur eine problematische Nebenwirkung. Das Misstrauen zwischen Han-Chinesen und Uiguren wird durch die Agitation gegen "Separatismus, Radikalismus und Terrorismus" und durch den rassistischen und anti-muslimischen "War on Terror" gewiss nicht verringert.

Nach außern hin kann China ebenfalls - man verzeihe den bildlichen Ausdruck - eine Politik aus Nudelsuppe und Drachenkralle anwenden. Den großen geopolitischen Rivalen und ihren Verbündeten wird daher klar gemacht, dass Xinjiang kein Sandkasten für alle ist. Die Ordnung Xinjiangs droht im Streit zwischen den Mächten auseinanderzufallen, zerrissen zu werden von der eigenen multipolaren Stellung innerhalb einer multipolaren Welt. Ein Auseinanderfallen der staatlichen Ordnung in Xinjiang würde aber ganz China destabilisieren und auch im Rest des Landes die Ordnung gefährden. Chinesen und vor allem die chinesischen Eliten lieben aber die Ordnung im Reich der Mitte. "Ordnung muss sein" ist das Mantra der Han-Chinesen ebenso wie das der Eliten Chinas, die sich nur mit der staatlichen Ordnung halten können.

Eine Sezession des nordwestlichen Gebiets wäre für den chinesischen Staat nicht weniger als Selbstmord. Denn geopolitische Konkurrenten Chinas würden einem solchen "Ostturkestan" natürlich ebensowenig Ünabhängigkeit gewähren wie China. Der uigurische Separatismus würde notwendigerweise mit dem Imperialismus anderer Staaten verschmelzen. Allen voran die USA würden selbstverständlich, ganz ohne Zweifel, sofort ihren Einfluss geltend machen und ein "unabhängiges" Ostturkestan zur neuen Operationsbasis machen. China hätte damit die 5. Kolonne seines größten geopolitischen Konkurrenten direkt auf dem ehemals eigenen Territorium, sozusagen direkt vor der Nase, oder sogar wie ein Pickel auf der Nase.

Nach außen hin muss sich China zugleich bemühen, nicht zu viel Widerspruch zu provozieren. Entsprechend werden geopolitische Bündnisse angestrebt, um nicht aneinander zu geraten. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit ist das wichtigste Beispiel für solche Bündnispolitik, wobei das Zweckbündnis Chinas und Russlands alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber auch die zentralasiatischen Staaten sind von Bedeutung. Xinjiang ist umgeben von muslimisch geprägten Staaten wie Afghanistan, Pakistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Damit ist Xinjiangs die Brücke Chinas nach Zentralasien, aber auch der zentralasiatische Zugang zu China. Westliche Truppen könnten bei einem heißen Konflikt mit China über Xinjiang in das Land eindringen. Ein "unabhängiges" Ostturkestan als Teil eines imaginären türkischen Großreiches oder als Operationsbasis westlichen Militärs wäre noch viel anfälliger für eine geopolitische Ausnutzung des Gebiets durch dritte Staaten.

Die Widersprüche der sozialen Interessen in Xinjiang bzw. einem zukünftigen "Ostturkestan" sind also von großer geopolitischer Bedeutung. Sowohl für China wie auch für konkurrierende Mächte ist das Gebiet vom entsprechendem Interesse. Das staatskapitalistische China wird es daher unter keinen Umständen friedlich abgeben. Die uigurischen Separatisten stehen auf verlorenem Posten und ihre einzige Perspektive für das Gebiet kann eine Zerstückelung und Zerstörung der Lebensgrundlagen der Uiguren vor Ort sein. Sie täten gut daran, die einzige echte Alternative für den Status Quo zu fördern: die radikale Umwälzung des Staatensystems durch fortschrittlich gesinnte Bewegungen der unteren Klassen.

Die Brücke Zentralasien-China, Quelle: http://www.chinatravelca.com

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