Freitag, 12. September 2014

Reaktionäre Phantastereien und Marxismus, oder: War Lenin ein Querfrontler?

Die neuen Montagsdemos bzw. "Mahnwachen für den Frieden" haben gewisse Gemüter in Deutschland stark erhitzt und gespalten, wobei das Spektrum der Urteile über den Charakter der Mahnwachen sogar innerhalb marxistischer Zirkel weit auseinanderging.

Dabei kam es zu Verurteilungen, zu Gleichgültigkeit oder zu aktiver Teilnahme linker Aktivisten an der Bewegung, die mal für "neurechts", mal für "fortschrittlich" oder mal für schlicht "zu unbedeutend" gehalten wurde. Doch ist diese Spaltung gerechtfertigt? Ist die Beteiligung linker Aktivisten an einer nicht vollständig linken Bewegung oder sogar einer Bewegung, in der es "reaktionäre Phantastereien" und "Vorurteile" gibt also selbst auch reaktionär? Ist das die in letzter Zeit viel beschworene rot-braune "Querfront"? Und war Lenin dann ein sogenannter "Querfrontler"?

Denn Lenin hat sich ziemlich eindeutig zur Frage linker Beteiligung an Massen mit "reaktionären Phantastereien" geäußert. Im Folgenden einige abseitige Gedanken zum Verhältnis von linken Intellektuellen und nicht-linken Massen.

Lenin über die "reine" soziale Revolution


Die Frage der Haltung linker Aktivisten zu nicht-linken Massen ist nicht neu. Sie wurde seit der großen französischen Revolution immer wieder aufgeworfen. Marx und Engels thematisierten sie ebenso wie Lenin. Aber vielleicht waren diese Hauptvertreter des Internationalismus ja insgeheim durch irgendein Hintertürchen selbst Nationalisten und reaktionäre Fantasten?

Schauen wir doch einfach, was Lenin zur Frage "reaktionärer Phantastereien" in der Bewegung erklärt hat. So schrieb Lenin über die Frage der "reaktionären Fantasien" in den Massen und die nötige Haltung der Marxisten zu ihnen:

"Denn zu glauben, daß die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung - das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: 'Wir sind für den Sozialismus', an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: 'Wir sind für den Imperialismus', und das wird dann die soziale Revolution sein! Nur unter einem solchen lächerlich-pedantischen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen 'Putsch' zu schimpfen.

Wer eine 'reine' soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.

Die russische Revolution von 1905 war eine bürgerlich-demokratische Revolution. Sie bestand aus einer Reihe von Kämpfen aller unzufriedenen Klassen, Gruppen und Elemente der Bevölkerung. Darunter gab es Massen mit den wildesten Vorurteilen, mit den unklarsten und phantastischsten Kampfzielen, gab es Grüppchen, die von Japan Geld nahmen, gab es Spekulanten und Abenteurer usw. Objektiv untergrub die Bewegung der Massen den Zarismus und bahnte der Demokratie den Weg, darum wurde sie von den klassenbewußten Arbeitern geführt.

Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen - ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich -, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewußte Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhaßten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken 'entledigen' wird."

Die reine Revolution und die Reinlichkeitsreflexe der Linken


So weit Lenin zur Frage der "reinen" Revolution. Man könnte nun einwenden, dass dies ein aus dem Kontext herausgerissenes Zitat sei. Vielleicht ist ja die Kritik an den Mahnwachen heute legitim? Aber dann möge man bitte eine überzeugendere Zitatstelle oder einen Text bieten, der die Problematik besser behandelt. Lenin hat sich nicht umsonst gegen die sogenannte "Kinderkrankheit des Kommunismus" gewandt, der so links eingestellt war, das er mit realen Menschen nicht umgehen konnte. Auch heute noch stellen sich ähnliche Probleme der Bewegungsarbeit wie früher. Diether Dehm hat diese "Reinlichkeitsreflexe der Linken" entsprechend kritisiert.

Aber bisher konnte man fast nur eben diese Reinflichkeitsreflexe vermerken. Nur wenige Linke nahmen aktiv an den Mahnwachen teil und gewannen dort Sympathien und konnten dort überzeugen. Ein anderer Teil der Linken bediente sich Verleumdungen des Klassengemenges, das die "Mahnwachen" bildete und in der Tat nur stellenweise von Marxisten geprägt wurde.

Idealistische Kritiker sind oft mehr oder weniger links, also linksliberal oder kleinbürgerlich-radikal. Solche idealistischen Kritiker finden sich bei den Mahnwachen zuhauf. Sie selbst wünschen sich eine "reine" Revolution, eine "friedliche" Revolution und eine "Revolution des Geistes", des "Inneren" und ganz ohne Parteipolitik und Klassenkämpfe. Das ist natürlich eine Illusion und Idealismus. Aber es hat etwas Progressives, wenn sich vorher unpolitische Menschen gegen den Krieg und gegen offensichtliche Kriegspropaganda in den Medien wenden.

Da die Linke, die sich auf die marxistischen Klassenkämpfer und das Proletariat bezieht, selbst nicht frei von solchem Idealismus, ist es paradox, wenn sie die Mahnwachen für verkürzte Kritik kritisiert. Die Wurzel dieser Reinlichkeitsreflexe in der Linken ist ihr weitgehend bürgerlicher Charakter. Nicht das Proletariat und sein Kern, das Industrieproletariat, treibt die Bewegung voran. Nicht Arbeiter sind auf den entscheidenden Posten der linken Organisationen. Und es sind nicht Arbeiterkinder unter der linken Intelligenzija, die den sozialistischen Ton angeben. Arbeiterklasse, Arbeiterbewegung und die Linke sind momentan sehr verschiedene Dinge. Praktisch überall sind es Kinder kleinbürgerlicher, verbürgerlichter und sogar großbürgerlicher Familien, die den linksliberalen Ton angeben. Und wenn sie das nicht einsehen, dann bestätigt das nur einen bürgerlichen Idealismus und Liberalismus, der die realen Klassenspaltungen in der Gesellschaft nicht beachtet.

Wer sich eine linke Demonstration oder linke Bewegung wünscht, die nicht nur die üblichen Verdächtigen und vom Staatsschutz übel Verdächtigten umfassen soll, der muss akzeptieren (oder ignorieren), dass nicht bloß linke Heilige aufkreuzen. Diese gerade neu in (die) Bewegung geratenen Menschen haben natürlich "ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen", die sie in die Bewegung hineintragen. Wer sie deswegen systematisch als "neurechts" diffamiert, der mag ein Linker sein, aber revolutionäre Massen wird er nie auf seiner Seite haben. Und wenn die radikalisierten Kleinbürger der Mahnwachen und die linksradikalen Kleinbürger linker Organisationen sich gegenseitig kritisieren, dann geschieht das weitgehend auf kleinbürgerlichem Boden.

Man könnte leicht schlussfolgern: Wer nur eine "reine" Revolution als Revolution akzeptiert, die ausschließlich von linken Heiligen getragen wird, der will in Wirklichkeit womöglich gar keine Revolution. Wer alle vorherigen, "unreinen" Demonstrationen, Bewegungen, Kämpfe und Rebellionen von vornherein als "neurechts" auffasst, der will in Wirklichkeit womöglich gar keine echte Revolution, sondern nur eine "reine" Revolution. So jemand fürchtet womöglich eine eigenständige Bewegung.

Solch ein elitäres Verhalten passt gut zu den Neokonservativen, zu den Kriegstreibern, zu den konformen Intellektuellen, zu den Eliten in Politik und Wirtschaft. Diese Vertreter der bürgerlichen Herrschaft sind massenfeindlich und ekeln sich geradezu vor der proletarischen Bewegung, die Marx und Engels zufolge nicht viel mehr ist als "die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl" im Kapitalismus. Dieser Abscheu vor den selbständigen Massen, die gerade erst ihre Verschlafenheit und Passivität abstreifen, widerspricht natürlich den Interessen der Herrschenden. Solcher Abscheu passt aber nicht zu Menschen, die sich auf proletarischen Sozialismus oder Marxismus beziehen.

Das heißt nicht, dass die Vorurteile, reaktionären Phantastereien, Fehler und Schwächen einer Bewegung kritiklos hingenommen werden dürfen. Sie verdienen ihre Kritik vom sozialistischen, internationalistischen, proletarischen Standpunkt aus. Und jeder Rest an rückständigen Ideen sollte möglichst von fortschrittlichen Ideen und fortschrittlicher Praxis zurückgedrängt werden. Das gilt gerade auch für rechte, faschistische, reaktionäre Bewegungen, die der größte Feind der proletarischen Bewegung sind. Umso wichtiger ist es, eine Bewegung und Einzelpersonen mit bloß verkürzter Kapitalismuskritik vom Faschismus klar unterscheiden zu können. Wer das nicht tut, muss selbstzufrieden sein.

Aber der Kampf gegen die Reaktion kann eben nicht durch eine ebenso reaktionäre Standpauke bürgerlicher Idealisten geschehen, die ganz offensichtlich keinerlei Verwurzelung in den Massen und keinerlei Verständnis für diese Massen haben. Das wiederum heißt nicht, dass nur Industriearbeiter linke Politik machen können. Aber es sollte ein besseres Gefühl für das Problem existieren, dass sich die große Masse der Bevölkerung politisch nicht vertreten fühlt, dass es dadurch ein politisches Vakuum gibt ("Postdemokratie" genannt) und dass die Linke die Enttäuschung der Massen nicht mit Sektiererei und Moralismus überwinden kann. Die Idealisten der Mahnwachen haben eine eigenständige Massenbewegung gebildet, die sich über Monate hinweg jede Woche trifft. Ihr Kern besteht aus bisher unpolitischen Menschen in der Postdemokratie, die sich nun in lebendiger Demokratie üben. Je mehr die Linke auf sie einschlägt, desto mehr "Phantastereien" werden sich dort entwickeln. Je mehr die Linke sie stützt, desto mehr Hegemonie kann die Linke gewinnen.

Die Linke muss ihre Isolation von den breitesten Menschenmassen loswerden und gleichzeitig ihre Ideen verbreiten. Sie muss die Hegemonie gewinnen innerhalb der selbständigen Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das ist nicht "Querfront", sondern die einzige Möglichkeit, die linken Ideale mit Hilfe der Mehrheit endlich zu verwirklichen.

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