Montag, 9. November 2015

Sind die neuen Montagsdemonstrationen um Lars Mährholz und Ken Jebsen antisemitisch und rechts?

Heute werden für die neuen Montagsdemos allein in Berlin 5000 Menschen erwartet. Der politische Aktivist und Rapper Kaveh hat sich in einem Debattenbeitrag mit diesen auseinandergesetzt und mit der Frage beschäftigt, ob diese rechts und antisemitisch sind:

Seit knapp einem Monat gibt es bundesweit neue Montagsdemonstrationen (Mahnwachen) unter dem Motto: ‘‘AUFRUF ZUM FRIEDLICHEN WIDERS…TAND! FÜR FRIEDEN! IN EUROPA! AUF DER WELT! FÜR EINE FREIE, UNABHÄNGIGE PRESSE! GEGEN DIE TÖDLICHE POLITIK DER FEDERAL RESERVE (einer privaten Bank)!‘‘ Die Demos, die sich von Berlin auf 22 weitere Städte ausgebreitet haben, werden überwiegend über soziale Netzwerke wie Facebook organisiert. Während zunächst nur einige hunderte von Menschen auftauchten, waren es zumindest in Berlin weit über tausend Demonstranten, die in den letzten Wochen zur Mahnwache kamen. Am Anfang wurden die Demos noch von den Mainstream-Medien ignoriert. Mittlerweile existieren aber schon mehrere Zeitungsartikel über die Mahnwachen, z.B. in der Taz, Berliner Zeitung, Spiegel Online etc. Es gab einen Beitrag beim Radiosender Deutschlandfunk, ein 3Sat Interview mit Jutta Ditfurth, ein Bericht über den Initiator der Mahnwachen auf tageschau.de und sogar ein Kommentar von Konstantin Wecker. All diese Beiträge haben gemeinsam, dass sie die Mahnwachen zum rechten und antisemtischen Spektrums zählen. Auch linke Friedensorganisationen und Gruppen wie ATTAC haben sich von den Organisatoren distanziert und eindeutig vor den neuen Montagsdemos und ihrer Unterwanderung durch rechte Strömungen gewarnt. Die ‘‘neue Friedensbewegung‘‘ treibt unterdessen einen offen zur Schau getragenen Keil zwischen regierungskritischen Aktivisten. Ist die scharfe Kritik an den Mahnwachen berechtigt?
 
Kaveh
Lars Mährholz
 
In einem Interview mit Voice of Russia vom 7.4.2014 und einer Stellungnahme vom 18.4 erklärt der 34-jährige Fallschirmspringer, frühere Event-Manager und Initiator der neuen Montagsmahnwache in Berlin, Lars Mährholz, dass er sich erst Anfang dieses Jahres verstärkt politisiert habe und die westliche Berichterstattung im Zuge der Ukraine-Krise als Anlass nahm auf die Straße zu gehen. Er war bisher nicht politisch organisiert, gehört keiner Partei an und fühlt sich weder dem rechten noch linken Spektrum zugehörig. Der Weltfrieden und alternative Informationsbeschaffung lägen ihm besonders am Herzen und er sieht das Zentralbanksystem und die Federal Reserve Bank (FED, die US-Notenbank) – die seit 100 Jahren der Auslöser von Kriegen sei, die Fäden auf dem Planeten ziehe und mächtiger daherkomme als die US-Regierung – als ‘‘den Anfang allen Übels‘‘. Darüber hinaus kritisiert er das Zinseszinssystem und Fiatgeld (ein Tauschmittel ohne innewohnenden Wert, das von der Regierung reguliert wird). Für ihn sind extreme Positionen auf der Mahnwache nicht erwünscht, also weder Rechtsextreme noch Linksextreme oder religiöse Fanatiker sind willkommen. Zugleich spricht er sich gegen die Spaltung in ein linkes und rechtes Lager aus und versucht Menschen unterschiedlicher Couleur, politischer Gesinnungen, Religionen etc. zu mobilisieren. Er tritt ausdrücklich für einen friedlichen Widerstand ein, da ‘‘Gewalt nie eine Lösung ist‘‘ und ‘‘nie eine Veränderung auf dem Planeten hervorrufen‘‘ könne. Nur mir Frieden und Liebe sei eine Veränderung möglich. Wo die Veränderung konkret hinführen soll, geht aus dem oben genannten Interview und Statement von Mährholz allerdings nicht hervor. Die Kooperation für den Frieden – ein Dachverband der Friedensbewegung, dem mehr als 50 friedenspolitische Organisationen und Initiativen angehören – schrieb vor kurzem: ‘‘Auf eine nicht nur zufällige Verbindung zum Rechtsextremismus deutet hin, dass Lars Mährholz zeitweise auf seiner Webseite unter der Überschrift „Einige unserer Volksvertreter wachen auf!“ nur einen einzigen per Video zu Wort kommen lässt: Karl Richter, Stadtrat und Vorsitzender der Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) und Leiter des Parlamentarischen Beratungsdienstes der NPD-Landtagsfraktion im Sächsischen Landtag!‘‘ Darüber hinaus hat Mährholz auf seiner Facebook-Seite ein Bild gepostet, wo die (jüdische) Rothschild-Familie quasi als Weltherrscher in Erscheinung tritt. Dies deutet zwar auf anti-jüdische und rassistische Ressentiments hin. Gleichzeitig distanzierte sich Mährholz aber jüngst von der Rede einer ‘‘jüdischen Weltverschwörung‘‘ und auch vom Gedankengut des von völkisch-rassistischen Aussagen durchdrungenen Videos, das auf der angeblich von Rechten gekaperten Facebook-Seite von Anonymous Deutschland gezeigt wurde. Seine Ausführungen über die FED und Zinseszins weisen zwar auf eine – von der sog. ‘‘Zeitgeist-Bewegung‘‘ inspirierte – verkürzte Kapitalismus-Kritik und Verharmlosung der Nazi-Verbrechen hin. Dies aber als antisemitische Chiffre zu enttarnen ist undifferenziert und führt angesichts seiner Distanzierung von der Existenz einer ‘‘jüdischen Weltverschwörung‘‘ auch deutlich zu weit. Es scheint eher so zu sein, als vertrete Mährholz eine Weltanschauung, die sog. verschwörungstheoretische Perspektiven mit naivem Hippietum und einem Hauch von Esoterik vermischt und sich außerdem vom Gedankengut aller möglichen politischen Strömungen beeinflussen lässt. Mährholz ist also durchaus kritikwürdig. Aber ihn als rechten Antisemiten hinzustellen, scheint nach dem, was er bisher von sich gegeben hat wohl unangemessen zu sein. Wie sieht es mit Ken Jebsen aus?
 
Ken Jebsen
 
Der 48-jährige Journalist Ken Jebsen (geb. Moustafa Kashefi) ist ein brillanter Rhetoriker und Entertainer, der sich als vorübergehender Hauptredner der Berliner Mahnwachen herauskristallisiert hat. Er ist ein Kritiker der US-Außenpolitik, Nato, israelischen Kolonialpolitik und westlicher Menschenrechtsverletzungen. Er kritisiert die zerstörerischen Ausmaße der Konsumgesellschaft, die Ausbeutung der Mehrheit durch Geldeliten und die Desinformationen, die von den Mainstream-Medien gestreut werden. Er vertritt auch sehr kontroverse Thesen, wenn er die offizielle Version von 9/11 infrage stellt und suggeriert, dass die Anschläge von der US-Regierung inszeniert worden seien. Zwar benutzt Jebsen in seinen provokativen und stark zugespitzen Texten und Beiträgen gelegentlich unglückliche Formulierungen, welche die nötige Sensibilität vermissen lassen und analytisch sowie methodisch eher fragwürdig sind. In seiner Berichterstattung über die mediale Hetze gegen Länder wie Russland werden zudem menschenrechtsverletzende Praktiken wie die von Putin kaum thematisiert oder kritisiert. Dennoch wurde er – wie schon so oft, wenn Israel kritisiert wird – zu Unrecht als Antisemit verleumdet und seine Radiosendung daraufhin vom RBB abgesetzt. Seitdem arbeitet er als unabhängiger Journalist und betreibt die Internetsendung KenFM. Obwohl sich Jebsen gegen das Lagerdenken in rechts und links ausspricht, vertritt er klassisch linke Positionen des Anti-Imperialismus, die man ja in Deutschland bei vielen von der antideutschen Weltanschauung geprägten Linken gänzlich vermisst. Und auch wenn es für ihn in der journalistischen und politischen Praxis weder links noch rechts gibt, machte er in seiner Rede während der Berliner Mahnwache vom 14.4.14 unmissverständlich klar, wo er politisch steht: ‘‘Rechts ist natürlich das Kapital, Rechts ist natürlich die Ausbeutung, Rechts heißt natürlich über Leichen gehen. Und Links heißt natürlich dagegen ankämpfen…Links heißt natürlich solidarisch sein, aber es reicht nicht es bloß am Schreibtisch zu tun…Wenn du möchtest, dass sich die Bewegung in die richtige Richtung entwickelt, dann komm doch hierher…Ihr [Linken] seid herzlich willkommen.‘‘ Tatsächlich ist da etwas dran, wenn Jebsen auf seiner Facebook-Seite Kurt Tucholsky zitiert: ‘‘Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.‘‘ Bei vielen Linken bekommt man in der Tat den Eindruck, dass sie lieber vermeintliche Antisemiten entlarven und brandmarken, anstatt die Wirtschaft, Kriegstreiber, Banken und ihre politischen Handlanger zur Rechenschaft zu ziehen, da viele Linke die personalisierte Kapitalismuskritik ablehnen und dahinter einen strukturellen Antisemitismus erkennen. Personalisierte Kapitalismuskritik nimmt bei einigen tatsächlich antisemitische Züge an, da sie den Kapitalismus fälschlicherweise mit sog. ‘‘jüdischen Finanzkapital‘‘ in Verbindung bringen, ohne den multi-ethnischen, transnationalen und multi-religiösen Charakter der milliardenschweren ‘‘Global Player‘‘ zur Kenntnis zu nehmen. Personalisierte Kapitalismuskritik ist auch immer verkürzte Kapitalismuskritik, da die Bewegungsgesetzte und Eigendynamik des Kapitalismus als das heute dominierende gesellschaftlich-ökonomische System unberücksichtigt bleiben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Kritik an globalen Geldeliten und multinationalen Konzerne an sich unzutreffend ist, sondern mit einer Kritik an der noch wesentlicheren kapitalistischen Eigentums,- Herrschafts,- Konsum,- Tausch,- Verteilungs,- und vor allem Produktionsverhältnissen einhergehen sollte. Karl Marx, z.B., hat zwar darauf hingewiesen, dass die Ausbeutungsmechanismen des Kapitalismus nicht in erster Linie von den Kapitalisten selbst verursacht werden, sondern von systemimmanenten Charakteristika wie dem ständigen Zwang zur Profitmaximierung herrühren, dem die Kapitalisten permanent unterworfen sind. Allerdings ist er nicht davor zurückgeschreckt, Kapitalisten persönlich für unmenschliche Handlungen verantwortlich zu machen. Denn er vertrat die Auffassung, dass die Umwälzung der Verhältnisse keine natürliche Gesetzmäßigkeit darstelle, sondern von den Unterdrückten aktiv erkämpft werden müsse. Da viele Linke jedoch zum bürgerlichen Establishment gehören und Teil des Systems geworden sind, von dem sie profitieren, sehen sie die transnationalen Konzernen, bürgerlichen Parteien und Mainstream-Medien als ihre strategischen Verbündeten. Daher sind 
viele selbsternannte Linke auch nicht so sehr an einem Systemwechsel interessiert.
 
Die Gefahr der Vereinnahmung von rechts – Andreas Popp und Jürgen Elsässer
 
Trotz der Übertreibung und Diffamierung von Seiten der Massenmedien sowie einiger linker Gruppen und Personen, bergen die Montagsdemos dennoch ein gewisses Gefahrenpotential, über das man nicht einfach so hinweg schauen kann: Für die Mahnwache am 21.4 sind in Berlin Reden von Andreas Popp und Jürgen Elsässer geplant. Linksuntern.indymedia.org schreibt: ‘‘Andreas Popp ist ein Goldhändler, Autor und Medienunternehmer mit einem Faible für Verschwörungen, Pseudomedizin und Esoterik, der regelmäßig bei zwielichtigen Veranstaltungen auftritt, wie z.B. bei „Bewusst TV“ des Rechtsaußen-Esoterikers und „Kommissarische Reichsregierung (KRR)“-Anhängers Jo Conrad, oder bei der „Antizensurkonferenz (AZK)“ des Sektengründers Ivo Sasek. Auf der AZK tritt so ziemlich alles auf, was in der rechtsesoterischen/verschwörungsideologischen Szene Rang und Namen hat: Anhänger*innen der „Germanischen Neuen Medizin (GNM)“, Chemtrails-Paranoiker*innen, HIV/AIDS-Leugner*innen u.v.a.m., aber beispielsweise auch die wegen Volksverhetzung und Holocaustleugnung verurteilte Nazi-Anwältin Sylvia Stolz (Freundin von Horst Mahler).‘‘ Über Popp bezieht ATTAC in einer Warnung ‘‘vor den rechten Montagsdemonstrationen‘‘ folgendermaßen Stellung: Er ‘‘gehört zur sogenannten Wissensmanufaktur, mit der er seit langem für einen „Plan B“ wirbt, mit dem Untertitel „Revolution des Systems für eine tatsächliche Neuordnung“. Popp und sein Mitautor Albrecht beziehen sich dort positiv auf die antisemitische Hetzschrift „Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft“ von Gottfried Feder, den sie als „großen Wirtschaftstheoretiker“ würdigen. Feder war bis 1933 einer der führenden Wirtschaftstheoretiker der NSDAP. Mit seinen Thesen zur Zinsknechtschaft und seiner antisemitischen Hetze hatte er großen Anteil an den Wahlerfolgen der NSDAP. In „Mein Kampf“ streicht Hitler mehrmals die hohe Bedeutung heraus, die die Thesen Feders für ihn hatten.‘‘ Der Journalist und Chefredakteur des Magazins Compact Jürgen Elsässer wiederum war früher Mitglied des Kommunistischen Bundes und Teil der antideutschen Bewegung, wovon er sich später aber distanzierte. Er gründete 2009 die „Volksinitiative gegen das Finanzkapital“. Elsässer vertritt teils menschenverachtende und rechte Positionen. Er sympathisierte und verteidigte sogar offen die Politik von Ahmadinejad und auch diejenige Putins. Nach dem vermeintlichen Wahlerfolg Ahmadinejads im Jahre 2009 befürwortete er die brutale Niederschlagung der ‘‘Grünen Bewegung‘‘ im Iran. Er schreibt z.B., ‘‘Gut, dass Ahmidenedschads Leute ein bisschen aufpassen und den einen oder anderen in einen Darkroom befördert haben.‘‘ Abgesehen davon vertritt Elsässer nicht nur homophobe Standpunkte. Er behauptet auch, dass Thilo Sarrazin mit seinem Buch ‘‘Deutschland schafft sich ab‘‘ im Kern Recht habe. Sarrazin, schreibt er, ‘‘macht – als erster aus der politischen Klasse – einen Vorschlag, wie Deutschland als Nationalstaat und als Sozialstaat gerettet werden kann. Dazu gehört: Die ungehinderte Zuwanderung in die Sozialsysteme – über bedingungslose Transferzahlungen werden Leute aus aller Herren Länder regelrecht hergelockt, die kein Interesse an diesem Land, seiner Sprache und Kultur haben müssen, um weiter Knete zu beziehen, die weit über dem Arbeitseinkommen in ihren Herkunftsländern zu beziehen – muss sofort beendet werden.‘‘ Nach dem 4:4 der deutschen Fußball Nationalmannschaft gegen Schweden (2012) schrieb Elsässer sogar folgende Worte: ‘‘…absolut TÖDLICH ist das Vermischen: Wenn den Deutschen ihr Fleiß und ihre Kampfkraft ausgetrieben werden soll – und die heißblütigen Südländer ans Kreuz der preußischen Arbeitsdisziplin geschlagen werden“. Umso bedauerlicher ist es, dass Ken Jebsen eng mit Elsässer zusammenarbeitet. Jebsen lud ihn schon öfters in seine Sendung ein. Er schreibt immer wieder Artikel und moderiert Veranstaltungen für das Compact-Magazin von Elsässer. Während man über diese Zusammenarbeit geteilter Meinung sein kann, ist Elsässers geplante Rede auf der Montagsdemo nicht akzeptabel. Noch sind die Mahnwachen politisch heterogen, aber falls Menschen mit rechten Argumentationsmustern wie Popp und Elsässer zum Sprachrohr der Mahnwachen werden sollten, besteht die Gefahr, dass menschenverachtende Ideologien wie völkische, rassistische und chauvinistische Gesinnungen gefestigt werden und mithilfe der Mahnwachen noch mehr Verbreitung finden. Nur eine Distanzierung gegenüber solchen Personen und Gruppen ebnet den Weg für eine längerfristige Beteiligung und strategische Zusammenarbeit.
 
Ausblick
 
Die während der Mahnwachen von Jebsen und Mährholz häufig gefallene Aussage, ‘‘wir sind nicht gegen etwas, sondern für Frieden‘‘ und die ablehnende Haltung sich politisch klar zu verorten birgt die Gefahr, dass rassistische, homophobe oder anti-jüdische Gesinnungen anschlussfähig werden und populistische- und rechtsradikale Kräfte wie die AFD, NPD oder rechte Anonymous-Anhänger für die Mahnwachen werben und unterwandern, was sie ja teilweise sogar schon tun. Eine klare anti-nationalistische Positionierung und Distanzierung gegenüber Persönlichkeiten wie Popp und Elsässer wäre daher von Seiten der Veranstalter absolut notwendig, um der Infiltration menschenverachtender Ideologien entgegenzutreten. Bevor dies nicht geschieht ist äußerste Vorsicht geboten. Da Linke ja ausdrücklich von Jebsen und anderen eingeladen wurden sich an den vermeintlich hierarchielosen und dezentralen Mahnwachen zu beteiligen, sollte sich die anti-imperialistische Linke tatsächlich fragen, ob sie diese Plattform nicht nutzen sollte, um die verkürzte Kapitalismuskritik von Mährholz und co. zu problematisieren, eine kritischere Auseinandersetzung mit Machthabern wie Putin anzustoßen und wichtige Inhalte wie die rassistische Flüchtlingspolitik der BRD zu thematisieren? Ob man dort solche Positionen überhaupt toleriert, muss von den Organisatoren und Demonstranten der Montagsdemos aber erst noch bewiesen werden. Linke Gruppen und Aktivisten organisieren schon seit langem zahlreiche Friedensdemonstrationen und Mahnwachen. Dass jedoch eher unpolitische bzw. politisch nicht klar einzuordnende Bürger und Menschen aus dem sog. verschwörungstheoretischen Spektrum es schaffen, tausende von Menschen für Demos zu mobilisieren scheint relativ neu zu sein. Daher sollten sich Linke schon die Frage stellen und darüber diskutieren, ob sie in diesen mit dem politischen und wirtschaftlichen System unzufriedenen Menschen nicht strategische Verbündete sehen sollten, anstatt sie zu dämonisieren? Natürlich vorausgesetzt diese verfolgen keine rassistischen, homophoben, antisemitischen oder andere diskriminierende Meinungen und Ziele.
 
Artikel von Die Freiheitsliebe übernommen.

Authentischer Linkspopulismus in Plauen oder: Solidarität mit Ken Jebsen

Man muss kein Fan von Ken Jebsen sein, um seine Rede in Plauen am 8. November als absolut brillant einzustufen. Das ist der ehrliche Linkspopulismus, den die deutsche Linke spätestens seit 2007 hätte betreiben sollen. Und es gab nicht eine rechte Idee in der Rede. Refugees, Griechenland, Kriege, Ungleichheit, Demokratieabbau, Abbau des Sozialstaats, Kapitalismus als System, Passivität der Bürger, Notwendigkeit von Bewegung von unten etc. - alles Themen seiner Rede, die weitgehend auch von Sahra Wagenknecht oder Oskar Lafontaine hätte stammen können. Das war astreine linke Agitation.

Das eigentliche Problem bei ihm ist etwas ganz anderes als angeblicher Antisemitismus oder Nationalismus (dass er sich teils ungünstig und teils mehr als provokativ ausdrückt, ist untrüglich). Es fehlt ihm an organisatorischer Perspektive, an einem historischen Rahmen und an kluger Bündnispolitik. Deswegen bewegt sich da viel, aber es läuft ins Leere und damit Gefahr, zu noch mehr Enttäuschung zu führen. Ein Genosse drückte das Problem so aus:

"Es fehlt bei Ken leider jede konkrete Perspektive. Welches alternative Wirtschaftsmodel meint er, wie erreicht man das? Kein Wort über Organisierung, kein Wort darüber, wo und wie soziale Kämpfe geführt werden müssen. Was erzählt er den Leuten? Sie sollen sich einmal die Woche irgendwo hinstellen und sich unterhalten??? Was ist mit Gewerkschaften? Was ist mit Generalstreik? Von einer kämpferischen Partei ganz zu schweigen. Das Problem ist nicht Ken Jebsen, das Problem ist, dass wir keine Leute haben, die sich in Plauen hinstellen und den Menschen wirklich einen Weg und eine Perspektive aufzeigen. Das Problem ist die Schwäche und Zersplitterung der marxistischen Linken."

Es formiert sich innerhalb der Linken mit einjähriger Verspätung eine gedankliche Solidarität mit Ken Jebsen, der wie kein Mensch im Land der Verleumdung von allen Seiten ausgesetzt war und sich trotz allem nicht ins Private zurückgezogen hat. Wenn die Linke Leute wie ihn für sich gewinnen könnte, wäre für die Menschen in Europa schon viel gewonnen.

Ken Jebsen in Plauen, 8.11.2015
Leider ist die deutsche Linke zutiefst konservativ, elitär, kleinbürgerlich und zudem zumeist sehr weiß dominiert. Die Gründung der Linkspartei war zwar ein Fortschritt für die deutsche Linke, aber eigentlich auch nur aufgrund des desolaten Zustands der hiesigen Bewegung. Die LINKE ist nicht halb so links wie die SPD vor 1914. Und sie ist viel schwächer. Die radikale Linke links dieser Partei kann zwar effektive Blockaden und sonstige antifaschistische Aktionen erreichen, aber sie hat einen katastrophalen Ruf. Für viele von den Medien indoktrinierte Menschen ist die Antifa ebenso schlimm wie der Faschismus. Von den linken Kleinstparteien muss man gar nicht groß reden. Sie vegetieren bei unter einem Prozent der Wählerstimmen und leiden an Mitgliederschwund und Überalterung. Insgesamt ist die deutsche Linke einerseits allzu reformistisch und andererseits viel zu selbstgenügsam. Sie ist, obwohl durchaus im Parteiensystem in Form der Linkspartei etabliert, immer noch gesellschaftlich isoliert.

Und das Versagen der europäischen Linken in der Friedensfrage, in der europäischen Frage und im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie in den imperialistischen Zentren wie Deutschland und Frankreich wird immer offensichtlicher. In Deutschland wird der traurige Zustand der SozialistInnen allein schon durch die bloße Existenz der "antideutschen", neokonservativen Ideologie veranschaulicht, die nur aufgrund der Schwäche der Linken in den Köpfen wirrer Mittelschichtskinder herumschwirren kann. Alle Welt schaut auf Deutschland. Alle SozialistInnen der Welt schauen auf die deutsche Linke. Und die deutsche Linke - was tut die? Den erfolgreichsten linken Agitator der letzten Jahrzehnte gemeinsam mit den Leitmedien, Grünen, ex-grünen Adligen, Sozen, "Christ"demokraten, "Anti"deutschen und Ultrarechten verleumden, anstatt eine kluge Bündnispolitik und antifaschistische Taktik im Kampf gegen den absteigenden Kapitalismus und aufsteigenden Faschismus zu entwickeln. Die linken Sektierer tun so, als hätten sie superbe Spielregeln für linke Politik und als wäre Jebsen ein böser Spielverderber. Ein kluger Genosse stellte dazu fest:

"wer hat hat denn bei den Linken und vor allem bei den Kommunisten in Deutschland eine Alternative? Da habe ich nach den Ereignissen in Griechenland vor allem das Wort Verrat gehört. Ab Mittwoch hat (hoffentlich) auch Portugal eine linke Regierung, und ich fürchte aus den ultra-linken Zentren in Deutschland wird dann auch gleich wieder Verrat geschrien, wenn am Donnerstag in Lissabon nicht gleich Barrikaden gebaut werden und die Suuperreichen unter die Guillotine kommen. Aber es gibt den perfekten Weg nicht, und in Griechenland und in Portugal und einigen anderen Ländern Europas sind die Volksmassen viel weiter als in unserem lieben Land. Man muß die Wege im HEUTE suchen und nicht nur in 120 Jahre alten Schriften, obwohl die auch ihre Bedeutung haben. Dass das in Deutschland bis heute nicht begriffen wurde, liegt auch an den ewig zerstrittenen, ewig besserwisserischen Linken in unserem Land."

Ja, es fehlt der deutschen Linken die Perspektive. Da ein radikalisierter Kleinbürger und Linkspopulist wie Ken Jebsen alleine mehr Anhänger hat als die ganze deutsche Linke insgesamt, ist die organisierte Linke natürlich besorgt. Anstatt in ihm einen großartigen Bündnispartner zu entdecken - sei er noch so schwankend und selbst letztlich perspektivlos -, unterstützt man die großbürgerliche, spießbürgerliche und adlige Hetze gegen diesen radikalen Demokraten. (Ja, gemeint ist auch die Hetze von Jutta von Ditfurth, die die Verkörperung der Zweischneidigkeit des deutschen Ultraradikalismus ist: Kluge Kritik an den Grünen einerseits und linkes Elitegehabe andererseits.)

Dabei liefert ausgerechnet dieser sich in Rage redende Journalist, anarchistische Wutbürger und mutige Populist die Lösung der linken Krise: authentischen Linkspopulismus. Lafontaine, Wagenknecht, Gysi und andere begabte Redner der Linken sind eher Ausnahmen, denn sie beherrschen den Linkspopulismus meisterhaft. Allerdings wirken sogar sie auf viele Bürger nicht mehr authentisch, weil die Linkspartei sich ungewollt zu weit von den einfachen Massen entfernt hat. Viele unpolitische Bürger, "besorgte Bürger" und "Wutbürger" setzen nicht nur die Antifa mit dem Faschismus gleich, sondern auch die Linkspartei mit den anderen Parteien im Bundestag. Das liegt nicht unbedingt daran, dass sie alle rechts wären. Es liegt vor allem an den postdemokratischen Zuständen im Lande und am Versäumnis der sozialistischen Bewegung, eine breite Massenbewegung gegen diese Zustände zu werden. Kein Wunder, können doch die meisten deutschen SozialistInnen von heute den breiten Massen kaum glaubhaft verklickern, dass es sich für sie lohnen könnte, sich der sozialistischen Bewegung anzuschließen. Ken Jebsen dagegen politisiert und mobilisiert zuvor unpolitische und apathische Schichten der Bevölkerung. Das wäre eigentlich die Aufgabe der KommunistInnen im Land. Die bittere Realität beschrieb ein Genosse mit folgenden Worten:

"Als alter Erz-Trotzkist sage ich: Ken Jebsen hat mehr kritisches Bewusstsein in weiten Teilen der Arbeiterklasse (und die gibt es wirklich, 70-80% der Bevölkerung) bewirkt und durch seine aufrichtige und transparente journalistische Arbeit mehr systemkritisches Potential erzeugt, als die gesamte lumpige 'linke Szene' in den letzten 30 Jahren. Und als Zeitzeuge weiß ich da genau, was ich sage."

Alles das könnte auf die Idee bringen, dass die deutsche Linke wieder zum Marxismus finden muss, um mit der hochgradig gefährlichen Situation, die die gegenwärtige Weltlage prägt, zurechtzukommen. Alles das könnte dazu verleiten, die hegemonietheoretischen und bündnispolitischen Überlegungen der großen marxistischen Denker und Denkerinnen auch einmal praktisch umzusetzen, anstatt sie bloß in Seminaren für Studierende zu debattieren. Einer dieser Denker, Lenin, mahnt uns heute noch:

"Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter größter Anspannung der Kräfte und nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufs angelegentlichste, sorgsamste, vorsichtigste, geschickteste sowohl jeden, selbst den kleinsten 'Riß' zwischen den Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenen Länder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Bourgeoisie innerhalb der einzelnen Länder als auch jede, selbst die kleinste Möglichkeit ausnutzt, um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen, mag das auch ein zeitweiliger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein. Wer das nicht begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismus und vom wissenschaftlichen, modernen, Sozialismus überhaupt begriffen. Wer nicht während einer recht beträchtlichen Zeitspanne und in recht verschiedenartigen politischen Situationen praktisch bewiesen hat, daß er es versteht, diese Wahrheit in der Tat anzuwenden, der hat noch nicht gelernt, der revolutionären Klasse in ihrem Kampf um die Befreiung der gesamten werktätigen Menschheit von den Ausbeutern zu helfen. Und das Gesagte gilt in gleicher Weise für die Periode vor und nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat."

Viel Überwindung den GenossInnen, die endlich bereit sind, von ihrem hohen Ross abzusteigen und sich mal ernsthaft mit der Frage der Hegemonie auseinanderzusetzen. Und viel Spaß mit der brillanten Rede Jebsens.