Freitag, 30. September 2016

Des Pudels Kern – Marxens schillernde Begriffe von Arbeit und Spiel

Dass Marx den Menschen über den Arbeitsbegriff definierte, ist weitgehend bekannt. Dass dessen Gesellschaftskritik Friedrich Schillers Idee des "Spiels" zum Kern hat, ist weit weniger bekannt.

Denkt man an die marxistische Utopie, kommen einem stets zwei völlig gegensätzliche Bilder in den Sinn: Einerseits die barfüßigen, Mate trinkenden Studis mit Rastalocken und Guevara-Shirts, die vor der Unibibliothek chillen und "echte" Arbeit gar nicht kennen; andererseits die Arbeitssklaven in den Gulags und Fabriken des "totalitären" Ostblocks, denen keinerlei Muße gewährt wird – beides empörende Klischees. Die einen beneidet man für ihren Müßiggang, die anderen bemitleidet man wegen ihrer Plackerei. Beide verachtet man für die fehlende Abwechslung von Arbeit und Freizeit. Als normal und ideal gilt noch immer die "40-Stunden-Woche", d.h. der Genuss der Freizeit nur abseits von 40 Stunden Lohnarbeit in der Woche. Muße und Arbeit werden dabei als völlige Gegensätze verstanden, deren Vermischung entweder in der Arbeitswut eines Workaholic oder im Schlendrian enden muss. Wer sich hingegen ernsthaft mit Marx beschäftigt, wird ein anderes Ideal vor Augen haben: eine Assoziation freier Produzenten, die sich gegenseitig in ihrer Selbstentfaltung unterstützen und für die der Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit verschwindet.

Freiheitsutopien sind nichts Neues. Die deutschen Idealisten des 18. und 19. Jahrhunderts – namentlich Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Goethe und Schiller – spekulierten etwa über einen "schönen Staat" (Schiller) oder "die Freiheit des Menschen" (Fichte) jenseits der damaligen Gesellschaft. Die Menschen sollten von den bekannten äußeren Zwängen befreit werden. Goethes Ausspruch "Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein" fasst die Sehnsucht der Idealisten zusammen. Allerdings konnten sie sich nicht vorstellen, wie ein freies und müßiges Leben für alle Menschen ermöglicht werden könnte. Es fehlte ihnen an Einsichten in die Bedingungen der Möglichkeit solch einer kollektiven Freiheit. Ihnen blieb nur eine abstrakte Wunschvorstellung bzw. beißender Spott gegen die "Brotgelehrten" und "Philister" übrig, die für Lohn arbeiten (müssen). Marx erwiderte den Spott: "Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen." An dieser Stelle setzt Marxens Verständnis von Arbeit und Spiel an.

Marx definiert Arbeit als die "produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw." Arbeit diene dem Menschen zunächst dazu, sich die äußere Natur zu unterwerfen und sie nach eigenem Ermessen zu verändern. Mit der bewussten Veränderung der Natur "verändert er zugleich seine eigene Natur". Dadurch, dass der Mensch sich selbst verändert, macht er eine Entwicklung durch, die ihn der äußeren Natur gegenüber immer souveräner macht. Aus dieser Naturbeherrschung entwickelte sich laut Marx im Laufe der Zeit die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Sobald die Gesellschaft einen Überschuss ansammeln konnte, wurde systematische Ungleichheit möglich. Die Gesellschaft spaltete sich von da an in arbeitende und ausbeutende Klassen. Während die arbeitenden Klassen vor allem für ihr bloßes Überleben malochen, üben sich die ausbeutenden Klassen aller Epochen vor allem im Müßiggang. Das ist das Grundprinzip der Klassengesellschaften. Die zunehmende Gewalt gegenüber der Natur emanzipiert zwar die Gesellschaft von den Naturzwängen, aber zugleich ist sie eine zunehmende Gewalt der Eliten gegenüber den Massen.

Des Pudels Kern ist bei Marx wie auch bei den Idealisten die Freiheit des Menschen. Nicht die Naturgewalten oder gesellschaftliche Zwänge sollen das Los der Individuen bestimmen, sondern ihre eigene, innere Natur sollte sich entfalten. "Und wie Schiller die freie Verfügungsgewalt des Individuums über die Vielfalt und Potenz seiner Kräfte und Anlagen in der Form ihrer ständigen Betätigung und Übung sehr treffend als Spieltrieb bezeichnet, so auch Marx", bemerkte der schillernde Marxist Leo Kofler einmal. Marx erhebt daher das "freie Spiel der geistigen und physischen Kräfte", die in der Natur des Menschen angelegt seien, zum Maß aller Dinge. Eine Gesellschaft lässt sich entsprechend daran messen, wie weit sie dieses "freie Spiel" für alle zulässt. Die Gesellschaft von heute, d.h. der Kapitalismus, schneidet da trotz aller Errungenschaften ziemlich schlecht ab. "In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert", und zwar – so betont der kommunistische Ökonom – "durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit."

Marx erklärt damit die kapitalistische Organisation der Arbeit zum Haupthindernis für eine Gesellschaft sich frei entwickelnder Menschen. Zugleich entdeckt er ausgerechnet im Kapitalismus selbst die Lösung des Problems: Das Anwachsen der Produktivität aufgrund der unternehmerischen Konkurrenz ermöglicht zumindest prinzipiell eine Verringerung der leidvollen Arbeitszeit zugunsten der Freizeit. Erst die hochmoderne Industrie schafft die Basis für eine Verwirklichung der idealistischen Utopie in einer Gesellschaft. Das marxistische Programm, zusammengefasst in den Worten von Friedrich Engels, klingt daher wie eine geniale Mischung aus idealistischer Philosophie und volkswirtschaftlicher Kalkulation: "Die allgemeine Assoziation aller Gesellschaftsmitglieder zur gemeinsamen und planmäßigen Ausbeutung der Produktionskräfte, die Ausdehnung der Produktion in einem Grade, daß sie die Bedürfnisse aller befriedigen wird, das Aufhören des Zustandes, in dem die Bedürfnisse der einen auf Kosten der andern befriedigt werden, die gänzliche Vernichtung der Klassen und ihrer Gegensätze, die allseitige Entwickelung der Fähigkeiten aller Gesellschaftsmitglieder durch die Beseitigung der bisherigen Teilung der Arbeit, durch die industrielle Erziehung, durch den Wechsel der Tätigkeit, durch die Teilnahme aller an den durch alle erzeugten Genüssen".

Es ist das Ideal einer Gesellschaft, die "die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." Jedoch sei dies im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft undenkbar, denn ihre treibende Kraft ist nicht die unbedingte Entfaltung aller Menschen, sondern bloß ihre Entfaltung im Rahmen und im Sinne der Kapitalakkumulation. Die Organisation der Arbeit im Sinne des Kapitals verhindert sowohl eine stetige Verkürzung von Arbeitszeit als auch eine stetige Verschmelzung von Arbeit und Muße. Die meisten Menschen empfinden daher die Trennung beider als völlig normal und ihre Vermischung als abnormal, weshalb "Workaholics" und überchillige "Hippies" schräg von der Seite angegafft werden.

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